Aus den Feuilletons

Ein Pilz muss nicht Gassi gehen

04:20 Minuten
Der Schleimpilz Physarum polycephalum in einer Petrischale.
Sieht entzückend aus und hält länger durch als jedes Meerschweinchen: der "Einzeller des Jahres": der Schleimpilz Physarum polycephalum. © imago-images / Nature Picture Library / Sinclair Stammers
Von Hans von Trotha · 04.01.2021
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Die "taz" widmet sich ausführlich den Geschöpfen des Jahres 2021, von der Heilpflanze über Schmetterling und Wildbiene bis zur Spinne und dem Vogel des Jahres - um schließlich zu einer ungewöhnlichen Haustierempfehlung zu kommen.
Die Feuilletons brauchen immer ein paar Tage, bis sie sich vom Furor der Jahresrück- und -ausblicke befreit haben. Das ist normal. Bietet der Jahreswechsel doch zumindest theoretisch die Möglichkeit, unliebsame Phänomene als letztjährig der Vergangenheit zuzurechnen und Debatten für die Zukunft zu lancieren. Wobei Heiko Werning in der TAZ feststellt:
"Wer wirklich erfolgreich ist, braucht keine Auszeichnungen. Den Titel 'Virus des Jahres' für das Coronavirus gibt es entsprechend nicht."

Kaiser klonen aus einem Backenzahn?

Dynastie des Jahres sind und bleiben ohne Frage die Hohenzollern. Unter Historikern ist ein veritabler "Hohenzollern-Streit" ausgebrochen. Dabei sind die doch abgesetzt. Oder? Immerhin ist in Berlin ihr Schloss gerade wieder aufgebaut worden. Der Historiker Martin Kohlrausch macht in der FAZ jedenfalls "eine unerledigte Affäre" aus. Er erinnert an Peter Schamonis Dokumentarfilm "Majestät brauchen Sonne", der so endet:
"Ein Museumsführer in Huis Doorn, dem Exilort Wilhelms, zeigt Besuchern einen für Genanalysen verwendeten Backenzahn des Monarchen mit der Bemerkung, hieraus ließe sich vielleicht einmal der Kaiser klonen."
"In verschiedensten Gestalten und erstaunlicher Intensität haben hohenzollernsche Wiedergänger die deutschen Debatten und Feuilletons in den vergangenen anderthalb Jahren belebt und heimgesucht", stellt Kohlrausch fest.

Der Whistleblower des Jahres

"Der Streit um das, was der Familie der Hohenzollern an Besitz und kulturpolitischem Einfluss zustehen soll, ist öffentlich eskaliert." Er meint: "Von allein wird das Thema jedenfalls so schnell nicht wieder verschwinden."
Gilt das auch für das Thema Whistleblower des Jahres? - Oder vielleicht doch nicht? - "Julian Assange ist der Gesellschaft zu viel geworden", meint Paul Ingendaay in der FAZ. "Der Mann, die Sache, das große Ganze, für das er stehen könnte."
"Julian Assange muss man nicht mögen, um ihn vor der Auslieferung an die amerikanische Justiz zu schützen", zitiert Ingendaay die Schriftstellerin Masha Gessen. Und so wird Assange wohl doch weiter Whistleblower des Jahres bleiben.

Was ist eine kollektive Koprolalie?

Auch der Vergleich des Jahres bleibt irgendwie immer derselbe, diesmal im Doppelpack mit dem Virus des Jahres. "Die totale Analogie" macht Alex Rühle in der SÜDDEUTSCHEN aus bei den "Maßnahmen gegen Corona. Marlene Streeruwitz holt den Hitler-Hobel raus. Drunter", so Rühle, "geht es nicht mehr".
Er versucht, sich zu erklären, warum das so ist, wobei er feststellt, dass Nazi-Analogien "nichts Neues" sind, "wahrscheinlich wurden sie erstmals am 9. Mai 45 bemüht." In diesen unseren Corona-Zeiten gewinnt Rühle "den Eindruck von kollektiver nationalsozialistischer Koprolalie". Bevor Sie das jetzt googeln: Dabei handelt es sich um eine "krankhafte Neigung zum Aussprechen unanständiger, obszöner Wörter."


Bleibt die Natur, der sich Heiko Werning in der TAZ ausführlich widmet - "von der Heilpflanze (Meerrettich) bis zur Staude (Schafgarbe), vom Schmetterling (Brauner Bär) bis zur Wildbiene (Mai-Langhornbiene), vom Pilz (Grünling) bis zur Spinne (Zweihöcker-Spinnenfresser) des Jahres 2021".
Nicht kontrovers soll "die Kür des Schleimpilzes Physarum polycephalum zum Einzeller des Jahres" gewesen sein. Wer, so Heiko Werning, "auf der Suche nach einer Art Haustier ist, das länger durchhält als jedes Meerschweinchen und trotz beachtlicher Mobilität nicht mit Gassi gehen nervt – der Schleimpilz lässt sich problemlos mit Haferflocken züchten!"

Der Donald Trump der Vogelwelt

"Der Boom der Jahresgeschöpfe", lernen wir in der TAZ, "geht auf den Deutschen Bund für Vogelschutz zurück, den heutigen NABU. Vor 50 Jahren kam er auf die Idee, den 'Vogel des Jahres' auszuzwitschern. Zum 50-jährigen Jubiläum hat der NABU nun wieder Schlagzeilen gemacht: erstmals wurde der Jahres-Vogel basisdemokratisch gewählt " - und prompt gibt es ein Populismusproblem.
"Denn während sich nur jeweils sechs Stimmen für Spornpieper, Rohrschwirl oder Skua erbarmten", gewann ausgerechnet die Stadttaube. "Wobei die Taube selbst im Wesentlichen durch schlechtes Benehmen auffällt, also eine Art Donald Trump der Vogelwelt darstellt, nur, dass sie ihre Wahl halt tatsächlich gewonnen hat."
Ach Gott, der! Jetzt kann uns, dank TAZ und Heiko Werning, die olle Stadttaube, sollte sie endgültig bestätigt werden, zwölf Monate lang an das Feuilleton-Thema des letzten Jahres erinnern, das wir nach dem 20. Januar mit Sicherheit am wenigsten vermissen werden.
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