Aus den Feuilletons

Ein Leberwurstbrot zum Verlieben

06:22 Minuten
Eine Hand schneider eine Leberwurstrolle durch.
Hohe Bußgelder gegen «Wurstkartell» © dpa / Federico Gambarini
Von Arno Orzessek · 02.03.2019
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Die "Neue Zürcher Zeitung" formulierte diese Woche ein "Lob auf eine deutsche Delikatesse". Lese-Spaß statt Relevanz. Die "Welt" und "Zeit" dagegen wählen die Relevanz und schreiben über den Fall Daniel Barenboim.
Für die Vegetarier unter den Lesern der NEUE ZÜRCHER ZEITUNG war es vermutlich kein journalistischer Leckerbissen. Wir jedoch bekamen Appetit auf die neue Woche, als wir am vergangenen Montag den NZZ-Artikel "Die ganze Wurstwahrheit" lasen. Länge: eine komplette Seite. Bebilderung: acht pralle Leberwurst-Enden. Text-Gattung laut Unterzeile: "Lob auf eine deutsche Delikatesse".
Dabei war dem NZZ-Autor Leander Steinkopf die Kühnheit seines Ansinnens völlig bewusst:
"Wenn man zu einem ersten Date lädt oder einem zweiten, zu einem Picknick etwa, würden wohl nur wenige Leberwurstbrote einpacken. Schon das Wort klingt wie der Abbruch aller Verführung. Man kann es ja versuchen: Man flüstere Tagliatelle in ein Ohr, dann in das andere: Leberwurst. Es wird Lachen oder Empörung verursachen, wie erst das zärtliche Versprechen mit den wohlbenannten Bandnudeln Fahrt aufnimmt, aber dann abrupt in der Leberwurst steckenbleibt."

Treffen auf ein Leberwurstbrötchen

Indessen kam der Tag, an dem Steinkopf in einer Metzgerei nahe des Münchener Prinzregentenplatzes ein Stück feiner Schweineleberwurst erwarb:
"Es war nicht die landläufige Leberwurst, der man nur Rauch und Innereien anmerkte. Diese war ganz vordergründig fruchtig, mit einem Gewürzglitzern folgend, und die Strenge der Leber war hier nur eine pastellfarbige Leichtigkeit im Hintergrund. Bei einer Blindverkostung wäre das Produkt als französischer Patè durchgegangen."
Und man höre und staune: Irgendwann hat der NZZ-Autor im Zustand totaler Verliebtheit eine junge Frau zum, jawohl!, Leberwurstbrötchenessen eingeladen.
Aber keine Bange! Alles wurde, Steinkopf formuliert es mit bebendem Herzen, "unglaublich gut".
Bitte schön, auch das ist Feuilleton: Lese-Spaß diesseits der Relevanz.

Der Fall Daniel Barenboim

Jetzt aber etwas für die Kultur- und Problem-Junkies unter uns: der Fall Daniel Barenboim.
Dem Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden wird vorgeworfen, seine Musiker demütigend behandelt zu haben.
In der Tageszeitung DIE WELT erklärte Leo Siberski, ehemals Erster Trompeter der Staatskapelle:
"Je länger ich selbst da war, desto stärker merkte ich, die Staatsoper unter Barenboim ist weniger eine Diktatur als eine sektenartige Veranstaltung. Und am besten lebt es sich in einer Sekte, indem man die Bedürfnisse des Gurus zu stillen bemüht ist. Und die, die kritisieren und frei denken, werden isoliert und diffamiert. Dazu kommt: In einer Diktatur habe ich die Möglichkeit, mich privat abzukapseln, als Künstler geht das nicht. Da steckt das Herzblut im Beruf, ich ziehe mich aus, gebe mich hin, bin verwundbar. In dieser Ausgangssituation mit der permanenten Angst zu leben, nicht mit Würde behandelt zu werden, ist sehr belastend."
Der bezichtigte Barenboim selbst erklärte in der Wochenzeitung DIE ZEIT die gesamte Debatte für nichtig. "Hier wird etwas zu einer großen Causa aufgeblasen, das in keinem Verhältnis zur Realität steht. Ich habe kein Verbrechen begangen, ich habe niemanden belästigt oder gar vergewaltigt. Und ich lasse mich nicht in die Ecke drängen."
Zuspruch erhielt Barenboim von Tilmann Krause. Der WELT-Autor unterstrich, das Orchester der Staatsoper stehe besser da "als jemals seit 1945".
"[Und das] führt uns zu einer Gesetzmäßigkeit, die in Zeiten, da jeder auf ‚Respekt‘ und seine ‚Würde‘ bedacht ist, ein wenig unterzugehen droht. Und diese Gesetzmäßigkeit lautet: Wer Spitzenleistungen ermöglichen will, schafft das nicht allein durch Lob und gutes Zureden. Vor allem für die darstellenden Künste gilt nun einmal: Kunst kommt nicht von kuscheln. Kam sie nie. Die Zahl großer Regisseure, Dirigenten, Gesangslehrer, die auf sogenannte schwarze Pädagogik setzten, ist Legion."

Kunst ist "nicht politisch korrekt"

Lapidar, provozierend, auch etwas arrogant: Tilmann Krause in der WELT.
Im Tonfall dezenter, betonte Peter von Becker unter dem Titel "Die Macht und die Herrlichkeit" im Berliner TAGESSPIEGEL:
"Kunst, auch wenn sie neben allen Abgründen und Apokalypsen zugleich den Vorschein von Humanität, Freiheit, Demokratie spiegeln mag, sie entsteht nicht durch Mehrheitsentscheidungen. Ist nicht plural oder demokratisch und schon gar nicht politisch korrekt."
Tja, in der MeToo-Debatte schien es noch so, als würde das politisch Korrekte quasi Gesetzes-Status erlangen. In der Barenboim-Debatte ist das erkennbar anders.

Die Macht von Facebook und Co.

Weiter als Barenboims Macht reicht die Macht des Facebook-Gründers Mark Zuckerbergs.
Nach der Fusion der Messenger von Instagram, Facebook und Whatsapp ist die sogenannte "Community", von der Zuckerberg gern spricht, auf 2,7, Milliarden Menschen angewachsen.
Und darüber zeigte sich die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG beunruhigt.
"Die Gefahr, die von Facebook ausgeht, ist nicht, dass mit der Fusion der Messengerdienste ein Monopol entsteht, sondern eine sektenhafte Organisationsform, deren Mitglieder mithilfe von Algorithmentechnik indoktriniert werden. Dass in Codes bestimmte Wahrheitsansprüche formuliert werden, macht eine Organisation ja noch nicht zur Sekte. Dass mit diesen Codes aber ein Exklusivitäts- und Absolutheitsanspruch (‚our community‘) abgestützt und Realität bis zur Unkenntlichkeit simplifiziert wird, hat durchaus Sektencharakter. Ein Austritt aus dieser Gemeinschaft ist ohne größere soziale Kosten kaum noch möglich."
So der besorgte Adrian Lobe in der SZ.

Ein Like im Internet

Im Netz wird viel geliked, aber womöglich noch mehr gehatet, um es in ästhetisch dürftigem
Neudeutsch auszudrücken. Warum das so ist, erläuterte Rainer Paris in der NZZ.
"Das Netz ist das ideale Medium, um lange schwelende Gefühle von Neid und Zurückgesetztheit in Hass und Ressentiment zu verwandeln. Der User ist vor dem Bildschirm allein und doch in ständigem Kontakt mit Gleichgesinnten. Die Einsamkeit des Neides geht über in die Gemeinschaft des Hasses. Entscheidend für die Enthemmung im Netz ist, dass der Hass hier nichts zu fürchten hat. Er muss gerade nicht mit unmittelbaren Gegenaggressionen rechnen. Und ohne Gegenreaktion kann es auch kein Zurückweichen geben."
Okay. Das war’s für heute: vom Lob der Bratwurst zum Hass im Netz. Wenn Sie übrigens wissen wollen, was wir an diesem Sonntag am liebsten tun würden, antworten wir Ihnen mit einer Überschrift des TAGESSPIEGEL.
Sie lautet: "Schweben lernen".
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