Aus den Feuilletons

Ein Baum als Mittäter des Klimawandels

06:15 Minuten
Eine Eiche auf einer Wiese in Bayern.
Botaniker aus den USA sind sich sicher: Die Eiche verschwendet Wasser. © imago images / imagebroker / Frank Sommariva
Von Tobias Wenzel |
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Deutschland ächzt unter der Hitze und bedauert den Wald als ein Opfer der aktuellen Wetterlage. Doch ausgerechnet ein Baum, die Eiche, soll ungehemmt Wasser verschwenden. Das erfährt man aus der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".
Wer ist Opfer und wer Täter? Diese Frage hat über den Feuilletons dieser Woche geschwebt. Wobei der vermeintliche Täter auch mal schnell zum Opfer werden konnte und das vermeintliche Opfer zum Täter.
"Gleich nach uns, die wir die Rolle des Opfers gleichwohl mit sehr viel größerer Inbrunst ausfüllen, kommt der Wald", schrieb Joachim Müller-Jung in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG über die Leidtragenden der "Mörderhitze" und Trockenheit. Dann machte der Journalist aber den Baum zum Mittäter des Klimawandels, indem er schrieb:
"In dem Hauptblatt der amerikanischen Wissenschaftsakademien, den berühmten ‚Proceedings‘, ist soeben eine Untersuchung von Botanikern der University of Utah erschienen, die manchen Baum zwischen Kanada und Australien in den Verdacht bringt, in der Hitze hemmungslos Wasser zu verschwenden." Und zu diesen Bäumen gehöre – da musste manch deutscher Leser sicher schlucken – auch die Eiche.

Preis für umstrittene Karikaturistin

"Ich zeige Frauen, die freiwillig und sehr bewusst und aus ideologischen Gründen das Kopftuch tragen. Sie sind keine Opfer, sie sind Täterinnen." Das sagte Franziska Becker, die als Karikaturistin für die feministische Zeitschrift "Emma" arbeitet und an diesem Samstag mit einem Preis für frauenpolitisches Engagement vom Journalistinnenbund ausgezeichnet worden ist, im Gespräch mit dem SPIEGEL. Sie übe nicht Islam-, sondern Islamismus-Kritik. Im Internet hatte es einen Shitstorm gegen die Zeichnerin und die Preisvergabe gegeben. "Die Chefredakteurin von ‚Edition F, Teresa Bücker, schrieb auf Twitter, Ihre Zeichnungen seien ‚so offen rassistisch‘, dass ihr ganz schwindlig werde", so der SPIEGEL. Beckers Antwort: "Och Gott, die Arme. Dann soll sie einen Prosecco trinken. Im Ernst, das ist ignorant gegenüber meinem Werk. Und es ist anbiedernd gegenüber dem Zeitgeist."

Harvey Weinstein-Anwalt Opfer von Protesten

Den Zeitgeist, und zwar in diesem Fall einen studentischen, hat auch Ronald Sullivan, ein Jura-Professor an der Harvard University, zu spüren bekommen, wie man Christian Zaschkes Artikel in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG entnahm. Sullivan ist einer der Anwälte von Hollywood-Produzent Harvey Weinstein, dem sexuelle Nötigung bis Vergewaltigung in zahlreichen Fällen vorgeworfen wird. Als Sullivans Engagement publik wurde, waren auf dem Universitätsgelände von Harvard plötzlich Graffitis mit der Aussage ‚Nieder mit Sullivan‘ zu lesen. Sullivan und seine Frau wurden nach den Protesten von der Universität als Vorsteher eines Studentenwohnheims abgesetzt. In der "New York Times" betonte Sullivan nun, was eigentlich klar sein sollte: In einem Rechtsstaat haben auch Menschen, die die Gesellschaft verachtet, ein Recht auf einen guten Anwalt. Die Harvard-Universität habe vor dem studentischen Protest kapituliert.

Neo Rauchs Fäkalien-Bild

"Gendersensible Jünglinge", die "gleich mit dem Fallbeil zur Hand" sind –so nannte der Maler Neo Rauch einmal derartige Menschen und so zitierte ihn Martin Machowecz in der ZEIT. Dort hatte der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich dem Künstler vorgeworfen, er trage mit seinem rechten Denken zur "Verschiebung des politischen Klimas" bei. Neo Rauch fühlt sich als Opfer einer Denunziation und macht nun den vermeintlichen Täter gewissermaßen auch zum Opfer. Denn Rauch hat, ebenfalls in der ZEIT, mit dem Gemälde "Der Anbräuner" (eine Anspielung an Anschwärzer) auf die Vorwürfe geantwortet. Abgebildet ist der Kunstkritiker Ullrich als Maler, der in der Enge eines Dachateliers auf einen Pinsel kotet. Auf der Leinwand, dem Bild im Bild, finden sich, offensichtlich mit Kot gemalt: die Initialen W. U., die auf Wolfgang Ullrich deuten, und eine Figur, die den Hitlergruß zeigt. Der Abdruck dieser gemalten Replik ist ein Coup für die ZEIT. Aber ob sich der in seinem Werk sonst so vieldeutige Maler mit dieser plumpen Darstellung wohl einen Gefallen getan hat?
"Der Rückgriff auf das längst ausgeräumte Tabu der künstlerischen Verarbeitung von Fäkalien", schreibt nun Kolja Reichert in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG, "ist in seiner Analität unbegreiflich. Es ist dies das deprimierendste Scheitern eines Kunstwerks seit langem." Ob Neo Rauch nun auch Kolja Reichert malt, als Kritik der Kritik der Kritik der Kritik, bleibt abzuwarten.

Der neue Bürgermeister von Istanbul

"Zweifellos hatte an seinem klaren Sieg auch Anteil, dass er ‚Opfer‘ war", schrieb Bülent Mumay in der FAZ über Ekrem Imamoglu, den neuen Bürgermeister von Istanbul. Erdogan habe die Wahl, in der der Oppositionspolitiker knapp gewonnen hatte, annullieren lassen, in der Hoffnung, dass sein eigener Kandidat dann bei der neuen Wahl gewinne. Daraus wurde nichts. "Der Verlust der Metropole las sich in den Palast-Medien so: ‚Istanbul hat seine Wahl getroffen‘", schrieb Mumay. "Bei Fußballnachrichten wird statt ‚Das Spiel wurde gespielt‘ gemeldet, wer gewonnen hat. Als es aber um die Niederlage der AKP ging, war weder vom Ergebnis noch von den Akteuren die Rede."
Dieser politische Einfluss auf die Medien erinnert Mumay an Ägypten. In seinen Worten: "Das Al-Sisi-Regime, das ihn gestürzt hatte, bestimmte, wie die ägyptischen Medien über Mursis Tod berichteten. An die Medien ging ein Text von 42 Wörtern. Bei Extra News TV hängte die Sprecherin Noha Darwish allerdings aus Versehen ein paar Wörter zu viel an, als sie vom Prompter auch folgende Information ablas: 'Sent from a Samsung device.'" Von einem Samsung-Gerät verschickt.
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