Drei Kulturen - drei Abwege
In der "FAZ" zieht Leon de Winter historische Vergleiche zum aktuellen Vorgehen der IS-Truppen im Irak. Während die "taz" das Vorgehen von Recep Tayyip Erdogan in der Türkei kritisch betrachtet und die "Welt" nach Begründungen für die Akzeptanz Putins in der russischen Bevölkerung sucht.
Die entfesselte Brutalität, mit der die Kämpfer des "Islamischen Staats" vorgehen, erregt einen Schrecken, der schwer in Worte zu fassen ist. Oft werden die Überfälle der Tartaren, Beduinen und Mongolen in früheren Geschichtsepochen zum Vergleich herangezogen, und auch der niederländische Schriftsteller Leon de Winter fühlt sich daran erinnert. In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG schreibt er:
"Heutzutage erscheinen diese Horden nicht zu Pferde, sondern in Geländewagen und mit Granatwerfern, aber noch immer bebt die Erde, wenn sie kommen. Sie hissen schwarze Fahnen und lieben den Tod mehr als das Leben; aber erst, nachdem sie vom Fleisch unterjochter Frauen gekostet haben. Sie sprengen Statuen, Kirchen, alles, was ihnen in die Hände fällt: Die Würde des anderen wird nicht respektiert."
Ja, die Würde des anderen gehört zu den dekadenten Attributen der abendländischen Zivilisation, gegen die die Dschihadisten zu Felde ziehen. Aber wer sind sie und was treibt sie? Diese Frage beantwortet de Winter so:
"Junge Männer mit soliden Zukunftschancen schließen sich ihnen an. Sie lassen Ausbildung und Ehe sausen, um in einem Krieg zu kämpfen, in dem die Enthauptung des Opfers, also seine ultimative Demütigung, zum Initiationsritual wird. (…) Die Umstehenden, die diesen entscheidenden, alle Grenzen überwindenden Moment miterleben, sind nervös, weil der Killer nicht immer sicher ist und seine Hand vielleicht noch zittert. Sie rufen "Allahu akbar", um ihn darin zu bestärken, dass er den letzten Rest an Zweifeln, die vielleicht noch in ihm sind, endgültig über Bord wirft. Er führt das Messer und macht aus dem Gefangenen ein geschlachtetes Tier. Von nun an ist er durch nichts mehr an eine moralische Welt gebunden. Er kann jetzt töten und Befriedigung darin finden, und seine Gefährten respektieren ihn."
Dieser Blutrausch, dieses Potenzerlebnis, diese Austoben von Bestialität hat, darauf weist Leon de Winter abschließend hin, in unserer Kultur einen Namen: das Böse.
Parallelen zwischen der Rolle der Kultur in der Türkei und der DDR
In der Türkei lässt der gerade triumphal wiedergewählte Regierungschef Erdogan nach und nach die Masken fallen und versucht einen einheitlichen islamischen Lebensstil zu verordnen – vom Alkoholverbot bis zum Lachverbot für Frauen in der Öffentlichkeit.
"Die türkische Gesellschaft hat freilich Übung darin, auf politische Repression zu reagieren,"
erklärt Ingo Arend in der TAZ:
"Ihr großes Trauma ist der Militärputsch vom 12. September 1980. Gerade weil er so blutig war, gebar er seine Kontrahenten selbst: Als Antwort formierten sich die unabhängige Frauenbewegung und die neue Kunstszene."
Vor allem die Kunstszene, so Arend, habe sich zum Nukleus der neuen Zivilgesellschaft entwickelt und fungiere, wie einst in der DDR, als Ersatzöffentlichkeit. Ihre wichtigste Plattform, die Istanbul-Biennale, findet allerdings erst nächstes Jahr wieder statt, dann unter der Leitung der Ex-Documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev.
Flucht vor der Realität in Russland
Auch Russland entfernt sich derzeit immer weiter von demokratischen Idealen, oft wird sogar behauptet, das sei nicht verwunderlich, weil Russland überhaupt keine Demokratiegeschichte habe. Gegen diese weitverbreitete Vorstellung wendet sich in der WELT der Historiker Leonid Luks, der an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt lehrt.
Dass Russland nicht nur über eine obrigkeitsstaatliche, sondern auch über eine tief verankerte freiheitliche Tradition verfüge, zeige schon der Dekabristenaufstand von 1825, meint Luks. Auch der Sturz der Monarchie im Jahr 1917 führte zunächst zu dem, wie er es nennt "freiheitlichsten System der russischen Geschichte“, das freilich kein Jahr währte. Doch
"die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung wandte sich während des Bürgerkriegs gegen die Bolschewiki, bekämpfte sie oder verharrte in passivem Widerstand."
Heute allerdings solidarisiert sich die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung mit Putins Regierungskurs. Steckt darin also doch ein Wesenszug des russischen Nationalcharkters? Luks meint: Nein, im Verlauf der letzten hundert Jahre hätten auch andere Völker eine vergleichbare Flucht vor der Realität erlebt – "mit entsprechend schmerzlichen Folgen", wie er betont.