Aus den Feuilletons

Doku über den Nerd in der Steilwand

04:23 Minuten
Szene aus dem Film "Free Solo". Man sieht einen Kletterer in einer Felswand, unter ihm das Tal.
Ein kleiner Fehler hätte wohl tödliche Folgen: Szene aus dem Film „Free Solo“. © Copyright © ©National Geographic/Courtesy Everett Co / Everett
Von Arno Orzessek |
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Der Dokumentarfilm „Free Solo“ über den Extremkletterer Alex Honnold wurde mit einem Oscar prämiert. Zum Kinostart stellt die „Süddeutsche Zeitung“ den US-Amerikaner vor, der sich selbst eine „dunkle Seele“ nennt.
Es war im vergangenen Herbst im Hohen Atlas. Die Straße von Taroudant her endete als Sackgasse in einem Dorf. Weiß bemützt stiegen Dreieinhalbtausender zum blauen Himmel. Und da sind wir losgegangen, einem ausgewaschenen Bachbett folgend. Die Hänge wurden steiler, nahezu senkrecht, ein Wasserfall versperrte den Weg. Also begannen wir zu klettern: unvernünftig, ungesichert, ungeübt.
Und um es kurz zu machen: Unverdientermaßen haben wir’s überlebt. Der Sturz passierte erst unten, die Verletzung dauert an. Doch, ja! Sie hören die Kulturpresseschau. Die Episode aus Marokko haben wir vorgespannt, um anzudeuten: Das absolut ungesicherte Klettern, in der Fachsprache „free solo“, kann auch Tölpel faszinieren, die es echt nicht drauf haben.

Honnold war als Kind oft melancholisch

Umso gespannter sind wir auf den Oscar-prämierten Dokumentarfilm „Free Solo“ von Elizabeth Chai Vasarhelyi und Jimmy Chin. Die beiden haben den Extremkletterer Alex Honnold im Alltag und beim Free-Solo-Durchstieg der 1000-Meter-Wand des El Capitan im kalifornischen Yosemite-Nationalpark gefilmt.
„Alex Honnold sagt von sich selbst, dass er als Kind oft melancholisch gewesen sei, eine ‚dunkle Seele‘“, heißt es in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. „Er sagt das ohne jede Koketterie, es klingt eher ein wenig hilflos – so war ich eben. Gleich zu Beginn des Films gibt es eine Szene, in der Honnold in einer amerikanischen Talkshow zu Gast ist. Die Moderatorin fragt: ‚Was ich nicht verstehe: ein kleiner Fehler, einmal wegrutschen, und du fällst runter und bist tot. ‚Ja‘ sagt er. ‚Sie haben das genau richtig verstanden.‘“ „Der Nerd und der Fels“ heißt Thomas Jordans Kritik von „Free Solo“ in der SZ.

Philippe Lançon über Religion und Gewaltpropaganda

Gar nicht free solo unterwegs war der Journalist Philippe Lançon, als ihm der Tod begegnete. Genauer gesagt, als islamistische Terroristen im Januar 2015 in die Pariser Redaktion des Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ gestürmt sind und so viele Menschen wie möglich erschossen haben. In der Tageszeitung DIE WELT spricht Ute Cohen mit dem Überlebenden Lançon über dessen Buch „Der Fetzen“ – ein Titel, der auf die Rekonstruktion des Kieferknochens durch andere Körperteile anspielt, die bei Lançon nötig wurde.
„Mein Buch beginnt wie ein Theaterstück mit den Protagonisten von Charlie Hebdo und den Attentätern, diesen Verrückten, die mit ‚Allahu Akbar‘ ihre göttliche, verrückte Moral in die Welt hinausbrüllen. Dieses Böse steckt im Kern einer jeden Religion. Wenn Sie vom Bösen abstrahieren, was aber bleibt dann? Zwei schwarzgekleidete Männer, zwei debile Irre.“
Im Blick auf das politische Frankreich sieht Lançon bedenkliche Gewaltfantasien auch bei der extremen Linken:
„Sie hat die Vision einer strahlenden Zukunft, deren Preis allerdings die Eliminierung des Gegners wäre. Das hat sie mit der extremen Rechten gemein. Ständig ist bei der Linken die Rede von Gewalt gegenüber den Armen, der Macht des Staates und der Reichen. Ich leugne nicht, dass es all das gibt, aber Gewaltpropaganda ist keine Lösung. Das ist das Gerede einer Sekte, das sind Trunkene, besoffen von ihrer eigenen Ideologie.“

Über „richtige“ und „falsche“ Hilfe

Der Gewalt in ihrer syrischen Heimat entflohen sind Hundertausende – und hierzulande helfen ihnen viele. Aber nicht so, wie es sich die TAGESZEITUNG wünscht: „Hinter der Fassade des humanitären Einsatzes für Geflüchtete verbirgt sich Hochmut. Viele wollen sich um Opfer kümmern, interessieren sich aber kaum für die politische Identität von Menschen, die aus ihren Herkunftsländern fliehen mussten, weil sie sie verändern wollten.“
Helfen ja, aber es sollte, bitte schön, schon die richtige, zugewandte, informierte Hilfe auf Augenhöhe sein – fordert Lea Fauth in der TAZ.

Über die vermeintliche Macht des Internets

Nachdem der Bürgermeister Pawel Adamowicz im Januar ausgerufen hatte „Danzig will die Stadt der Solidarität sein“, wurde er niedergestochen und starb am nächsten Tag. In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG führt Tadeusz Dabrowski die Tat auch auf die Allgegenwart des Internets zurück: „Das Virtuelle saugt das Reale auf – und wir agieren schließlich wie Figuren in einem Computerspiel.“
Tja: Darüber kann man verschiedener Meinung sein. Und damit endet unsere Presseschau mit jener Sorte von Weisheit, die in der WELT zur Überschrift wurde, nämlich einer „Binsenweisheit“.
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