Aus den Feuilletons

Digitale Diskriminierung in der Gastronomie

06:18 Minuten
Luca-App mit QR-Code auf einem Smartphone vor einem Biergartenschild.
Ohne Smartphone geht in der Pandemie nicht viel. An vielen Orten muss man sich über die Luca-App einchecken, wie hier in diesem Biergarten. © imago / Friedrich Stark
Von Arno Orzessek · 19.06.2021
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QR-Codes sind die Schlüssel unserer Zeit. Mit ihnen öffnen sich die Türen in die Gastronomie, aber auch die Grenzen zu unseren Nachbarn. Nur braucht man dazu ein Smartphone. Was, wenn man keines hat, fragt die "Süddeutsche Zeitung".
Ob wir uns allmählich der Zielgeraden der Corona-Pandemie nähern, das weiß nicht einmal Karl Lauterbach so ganz genau. Sicher ist jedoch: Draußen geht jetzt wieder eine ganze Menge vom vormals Verbotenen – zur Freude auch von Ursula Scheer, die sich in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG jedoch über die QR-Codes aufregte, die man in vielen Lokalen scannen muss, um anschließend die Speise- und Getränkekarte auf dem Bildschirm lesen zu können.
Scheer gibt zu, dass "fettfleckige, klebrige und schon durch Dutzende Hände gegangene Menüs in schmuddeliger Klarsichtfolie nie ein Appetitanreger" waren – aber "dass man mobil vernetzt sein muss, um Cola, Bier oder Kaffee zu bestellen, ist ein Fall digitaler Diskriminierung. Was, wenn man kein Smartphone besitzt? 2020 hatten in Deutschland zwar rund 85 Prozent aller, die älter als 14 Jahre sind, eines in der Tasche. Bleibt ein Anteil übrig, der immerhin ungefähr dem Prozentsatz entspricht, den die SPD zurzeit bei der Sonntagsfrage erreicht. Was, wenn man sein Smartphone nicht dabei hat? Oder es dämlich findet, dass Serverfarmen brummen und der Akku geladen sein muss, damit man eine Getränkekarte lesen kann? Die ist in der grellen Junisonne auf dem Display ohnehin kaum zu entziffern."
Eine Lanze fürs Analoge – gebrochen von Ursula Scheer.

Zwischen Ich-isten und Populisten

Ebenfalls kritisch gegenüber Auswüchsen des Digitalen: der Artikel "Die Demokratie wird an euren Selfies sterben" in der Tageszeitung DIE WELT. "Der notorisch seine Individualität inszenierende Influencer ist die verhängnisvolle Figur unserer Zeit", hieß es in der Unterzeile. Jan Grossarth führte aus:
"Da der neue politische Influencer seine besondere Urteilskraft vor allem darin begründet, unabhängig zu sein, ist er auf einen Trick angewiesen. Er muss seine Ungebundenheit als Stärke inszenieren. Weil sie in Wahrheit keine Stärke ist, weil das Leben ein Beziehungsgeschehen ist, weil Reife aus Erfahrung kommt, benötigt er Karikaturen derjenigen, die gebunden sind. Das können parteipolitische, ideologische, religiöse Bindungen sein. Schon ist man auf der Rutschbahn des Ressentiments. Man könnte diesen Typus den 'Ich-isten' nennen. Beide, Populisten und Ich-isten, tragen bei zum Bruch mit einer Diskussionskultur, die man gebildet, bürgerlich oder demokratisch nennen konnte. Die Populisten sprechen für 'das Volk', die Ich-isten für sich selbst."
Leider können wir die grossarthschen Thesen nicht beurteilen. Denn unsere Verweildauer in den Sozialen Medien, dem Imperium der Influencer, zählt in manchem Monat nur nach Minuten.

"Basic Instinct" wird 30

Das Digitale mit dem Fleischlichen verband die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, indem sie fragte: "Möchte man Sharon Stone in 4K Ultra-HD unters Kleid schauen?" Der Anlass: 30 Jahre nach der Erstaufführung ist eine restaurierte Fassung von "Basic Instinct" erschienen. Jenem Film, in dessen berühmtester Szene Sharon Stone – unterm weißen Kleid unbekleidet – kurz die Beine spreizt. Den Moment davor präsentiert die SZ als großes Filmstill: Männer gaffen auf nackte Schenkel:
"Heute weiß man", erklärt David Steinitz, "dass die damals noch unbekannte Sharon Stone durch den Film zwar berühmt, aber nicht glücklich wurde. In ihrer kürzlich erschienenen Autobiografie sagt sie, dass sie bei der Szene, bei der sie die Beine überschlug, ohne einen Slip zu tragen, reingelegt worden sei. Regisseur Paul Verhoeven habe ihr gesagt, sie solle die Szene unten ohne drehen, damit das Licht der Scheinwerfer nicht auf ihrem weißen Höschen reflektiere. Dass er ihr mit der Kamera zwischen die Beine filmen wollte, davon sei nie die Rede gewesen."
Warum auch immer, irgendwie wirkte das SZ-Arrangement samt Filmstill, Steinitz-Text und der Überschrift "Das ist der Höhepunkt" etwas zotig auf uns.

Castorfs "Fabian" spaltet die Feuilletons

Aber kommen wir zu den Höhepunkten des Rezensionsfeuilletons: den Besprechungen der Frank Castorf-Inszenierung von Erich Kästners "Fabian oder Der Gang vor die Hunde" am Berliner Ensemble.
"Sprunghaft mäandert der Abend durch die 'Fabian'-Erzählung", meinte die TAZ. "Ein Overload an ambivalenten Haltungen, gegensätzlichen Weltbildern und Abschweifungen ist auch in diesem Castorf garantiert, der Geduld abverlangt in fünf Stunden Spieldauer inklusive Pause, aber sich eingroovt und mit großartigen Momenten belohnt."
Die frauenbewegte TAZ fand das Gebotene also okay, viel weniger der WELT-Autor Elmar Krekeler:
"Es wird Missbrauch mit Kartoffelsalat getrieben. Und mit Lippenstift. Frauen sind eminent nackt und werden benutzt. Was wiederum vielleicht die Misogynie beweisen soll, die Castorf bei Kästner entdeckt haben will, aber – mit Verlaub – ziemlich übel nach Sexismus riecht."
In der Wochenzeitung DIE ZEIT kümmerte sich Thomas E. Schmidt nicht um den Missbrauch von Kartoffelsalat, wohl aber um das Verhängnis des Moralismus:
"Der Moralist, wenn er groß und ehrlich ist, wird zum Monstrum, das im Angesicht der Verhältnisse sich selbst bekämpft und behauptet – und weiß, dass in der Selbstbehauptung die größte Unmoral liegt. So in etwa quält sich der Fabian von heute. Daneben ist es eine ganz andere Frage, ob es belebend ist, Castorf dabei zuzusehen. Doch, eigentlich schon."

Ein Hauch von Nordkorea in den USA

Wohin moralische Absichten führen können, beleuchtet im SPIEGEL René Pfister am Beispiel der sogenannten "Critical Race Theory", einem Theorieensemble in der US-amerikanischen Rechtswissenschaft, das die liberal-westliche Auffassung von Rassismus kritisiert. Unter der Überschrift "Ein Hauch von Nordkorea" erklärt Pfister:
"Die Idee, wonach Sprache ein Mittel der Gewalt gegenüber Unterdrückten sei, fördert in den USA eine geradezu hysterische Empfindlichkeit gegenüber Worten oder Gedanken, die als 'unsensibel' gelten. Inzwischen haben unzählige Amerikaner nach echten oder auch nur gefühlten sprachlichen Transgressionen ihre Jobs verloren. Die Grenzen dessen, was noch erlaubt ist, sind derart schnell im Fluss, dass selbst Gutwillige kaum noch mitkommen."
Ob es hüben bald ähnlich aussieht wie drüben? Manchmal befürchten wir das.Aber wir wollen Sie nicht mit düsteren Gedanken in den Sonntag verabschieden. Anlässlich seines 90. Geburtstags erklärte der Gelehrte Hans Maier in der SZ, er glaube nicht an den Niedergang der Demokratie. Und nun wünschen wir Ihnen, dass Sie in den schönsten Satz Meiers einstimmen können. Er diente der SZ als Überschrift und lautet: "Ich habe genug Hoffnung gespeichert".
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