Aus den Feuilletons

Die Überhöhung des Fußballs

Gerangel um den Spielball beim Landespokalfinale Sachsen-Anhalt, Hallescher FC - 1. FC Magdeburg 2:1, am 18.05.2016 im Erdgas Sportpark, in Halle/Saale
Landespokalfinale Sachsen-Anhalt, Hallescher FC - 1. FC Magdeburg 2:1, am 18.05.2016 im Erdgas Sportpark, in Halle/Saale © picture alliance / dpa / Jens Wolf
Von Arno Orzessek · 07.06.2016
Die Feuilletons strotzen nur so vor Fußball-Philosophien. Die "taz" meint einen gemeinsamen Nenner zwischen Fußball und den Finanzmärkten gefunden zu haben, in der "Süddeutschen" wird "Das Leben in 90 Minuten" besprochen.
"Das Schöne ist nur des Schrecklichen Anfang", titelt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG in enger Anlehnung an eine berühmte Sentenz aus den Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke.
Falls Sie, liebe Lyrik-Freunde, sich jetzt allerdings auf einen Beitrag über Poesie oder Poetik freuen, ist Ihre Freude nur der Ernüchterung Anfang. Der SZ-Artikel handelt von Fußball.
Helmut Böttiger bespricht "Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs" von Gunter Gebauer.
"Ähnlich wie die Kunst [so paraphrasiert Böttiger Gebauer] zeigt der Fußball eine andere Version der Welt. Und in seiner Ästhetik der Grausamkeit rührt er an die tiefsten Schichten. Der amerikanische Ästhetik-Professor Stanley Cavell bezeichnet Fußball als eine Welt 'in terms of Shakespeare': Die Sieger retten sich nämlich nur vor der Katastrophe, sie entrinnen einem bösen Schicksal. Im alltäglichen Leben bleibt dieser dunkle Untergrund meist verborgen, beim Fußball wird er unmittelbar erfahren."

Massenhysterische Events

Wer nun stöhnt 'Oh Gott, noch so eine feierliche Überhöhung des Kickens!', der dürfte Ingo Arzt zustimmen.
In der TAGESZEITUNG betont Arzt im Rahmen der Rubrik "Kapitalozän":
"Fußball und Finanzmärkte haben sehr viel gemeinsam. Beides sind massenhysterische Veranstaltungen, die regelmäßig ganze Länder voller Verlierer ins Elend stürzen. […] Beide verwandeln Menschen in eine panische Herde (Schland-Rufe, Börsenblasen). Fußball und Finanzmärkte sind der Beweis, dass der Mensch ein Rind ist. Aber so ein Tor von Götze in der 116. Minute ist halt… JAAAAAAAAAA! (Muh)"
Nun, der TAZ-Autor Arzt be-muht wohl jenes Tor, das Götze im WM-Finale in der 113. Minute geschossen hat…
Aber egal. Sicher ist, dass Arzt mit den Emotionen angeblicher Fußball-Feinde spielt - denn er setzt hinzu:
"Ich hoffe, dass Sie jetzt nicht denken: Recht hat er, alles Idioten, diese Fußballfans. Come on, Sie gucken doch auch gern! Versuchen Sie mal nicht, sich moralisch-konsumkritisch vom Rest der Massen zu distinguieren. Wir sind alle Rinder."
Ein Bekenntnis, dass man unter Schach-Freunden selten hört.

Neutralität als schlimme Krankheit

Aber ob so oder so, wir kommen zu Viktor Kortschnoi, dem in Russland geborenen Spitzen-Spieler, der am Montag im Alter von 85 Jahren in der Schweiz gestorben ist und noch mit achtzig Schweizer Meister geworden war.
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG erklärt Jürgen Kaube, warum Kortschnoi "Der Schreckliche" genannt wurde.
"Sie nannten ihn so, weil er eines der grimmigsten Temperamente im Schachsport war. Kortschnoi kassierte furchtlos Bauernopfer seiner Gegner und verteidigte sich dann mit Zähnen und Klauen. Er spielt stets aggressiv und einst – 'Ich betrachte Neutralität als eine schlimme Krankheit' – gegen ein ganzes Imperium, das sowjetische, das gegen seinen ersten Dissidenten und Exilanten im Schach alles aufbot."
Kaube über Kortschnoi, dessen Tod uns ein spätkindliches Gefühl in die Erinnerung zurückruft…
Wie wir nämlich damals, Ende der 70er-Jahre, staunend mitbekamen, dass im Duell Viktor Kortschnoi gegen Anatoli Karpov auf 64 lodernden Feldern nicht weniger als der Kalte Krieg ausgetragen wurde.

Kluft zwischen Ich und Welt

Kaum Zugang haben wir zu dem Segment, um das es in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG unter der Überschrift "Der Triumph des Spielers" geht.
Stefan Haubner begeistert sich für das Videogame "Uncharted 4: A Thief’s End" und nennt es "ein Musterbeispiel für die Kunst des interaktiven Erzählens"…
Eine Kunst übrigens, die den Spieler laut Haubner "15 bis 18 Stunden an den Bildschirm" fesselt. Und was hat er davon, fragen wir?
"In der Spielwelt wird die Kluft zwischen Ich und Welt für einen begrenzten Zeitraum ausser Kraft gesetzt", antwortet Haubner.
Klingt nicht uninteressant… Vielleicht spielen wir tatsächlich mal "Uncharted 4". Es wäre unser erstes Videogame ever.
Und im besten Fall rufen wir dann nach 18 Stunden die Worte, die in der TAZ Überschrift wurden:
"Das ist Spitze!"
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