Aus den Feuilletons

Die Schwäche des Westens

Der türkische Präsident Erdogan blickt aus einem Autofenster.
Der türkische Präsident Erdogan © AFP/Adem Altan
Von Tobias Wenzel · 02.04.2016
Der Konflikt zwischen westlicher und islamischer Welt beherrschte in dieser Woche die Feuilletons: Erdogan, Böhmermann und die Pressefreiheit, der Krieg der Islamisten gegen den Westen und was von Palmyra nach knapp einem Jahr IS-Herrschaft übrig ist.
"Seçim sonuçları hoşuna gitmezse / Bir şekilde düzeltir", stand da tatsächlich in der TAZ vom Mittwoch. Mehr noch: ein ganzer Text auf Türkisch. Und darunter das übergroße Foto von Tayyip Erdoğan. Hatte jetzt der türkische Präsident etwa auch die TAZ gleichgeschaltet? Nein, nein, keine Sorge: Die Zeitung hatte einfach, neben der deutschen Fassung, eine türkische Übersetzung des satirischen Liedbeitrags "Erdowie, Erdowo, Erdoğan" aus dem NDR-Magazin "extra 3" gedruckt. Und der eingangs zitierte Satz ist somit Erdoğan-kritisch: "Ist das Wahlergebnis schlecht / das ruckelt er zurecht".

Empörung über Erdoğan...

"Wir finden, man sollte den Song auch auf Türkisch verstehen", schrieb die TAZ. Den Song also, für den sich der deutsche Botschafter in der Türkei rechtfertigen sollte und den der türkische Präsident aus dem Internet verbannen lassen wollte. "Er glaubt offenbar, als Türhüter der Flüchtlingskrise reiche sein Arm sogar bis nach Deutschland", empörte sich Michael Hanfeld in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG über den versuchten Eingriff in die hiesige Pressefreiheit. Das Autorenkollektiv der Titelgeschichte im neuen SPIEGEL sah das allerdings etwas anders:
"Erdoğan ist nicht so naiv zu glauben, er könnte Deutschland dazu bewegen, den Beitrag zu löschen. Doch seine Attacken haben eine Botschaft für seine Wähler, für die Menschen in der Türkei: Ein Erdoğan lässt sich von niemandem etwas gefallen."

... und Böhmermann

Die Satire jedenfalls erreichte dank Erdoğans Intervention gegen sie gleich ein Millionenpublikum bei Youtube. "Und was macht Jan Böhmermann?", fragte Michael Hanfeld in der FAZ in Anspielung darauf, dass Böhmermann in seiner Sendung "Neo Magazin Royale" eine, wenn auch als solche gekennzeichnete, so doch trotzdem justiziable Schmähkritik auf den türkischen Präsidenten verlesen hatte. Hanfelds Antwort:
"Er reißt das alles mit dem Allerwertesten wieder ein, lässt seinem Sender gar keine andere Wahl, als seinen Beitrag zurückzuziehen und gibt dem türkischen Staatspräsidenten eine Vorlage, wie dieser sie sich nur wünschen kann. So doof muss man erst einmal sein."

Droht der Sieg der Islamisten über den Westen?

"Das sind Sätze, die sich wie schwarze Lava über unsere Zukunft schieben und alles unter sich begraben", schrieb Iris Radisch im Feuilletonaufmacher der ZEIT und meinte die Sätze ihres Interviewpartners, des algerischen Autors Boualem Sansal. Sätze über den Sieg der Islamisten über die westliche Welt, den er, der mit dem Tod bedrohte, im Exil lebende Autor, für ausgemacht hält:
"Sie haben dem Westen den Krieg erklärt und führen systematisch eine Schlacht nach der anderen. Und sie werden gewinnen."

45 Prozent der islamistischen Attentäter sind Ingenieure

Na ja, die arabischen Länder muss man einfach mit Bildungsprogrammen fördern, dann wird das schon wieder langfristig, könnte man dieser dystopischen Vision des algerischen Autors entgegensetzen. Wenn man nicht gelesen hätte, was Jürgen Kaube in dieser Woche in der FAZ über die Ergebnisse einer Studie schrieb:
"Von den mehr als zweihundert radikalen Muslimen, die an Terrorangriffen teilgenommen haben, waren 45 Prozent Ingenieure."
Also gebildete Menschen. Und dann referierte Kaube ein noch erstaunlicheres Ergebnis der Studie:
"Eine größere Religiosität sei bei Befürwortern von Bombenattentaten nicht erhoben worden. […] Religion erkläre den gewalttätigen Extremismus also nicht."

Palmyra in Teilen erhalten - ein Glück

Das wiederum widerspricht Boualem Sansals folgenden Worten in der ZEIT:
"Letztlich sind alle monotheistischen Religionen gewalttätig. […] Jetzt erwacht der Islam. Er will den Planeten erobern."
Also was jetzt: Untergang oder Rettung? "Palmyra gerettet?", fragte die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG und schlug einhellig mit der FAZ vor, alte detailgetreue Zeichnungen aus dem 18. Jahrhundert für die Rekonstruktion der antiken Wüstenstadt zu nutzen. "Was für ein Glück, dass Palmyra in Teilen erhalten ist!", schrieb Hanno Rauterberg in der ZEIT.
"Und man darf sich wundern: darüber, dass der IS nicht so radikal zu Werke ging, wie man es ihm gewöhnlich nachsagt."

Tod des Superhelden "Genschman"

In der FAZ hoffte Hans Zippert auf Rettung durch einen Superhelden:
"In der Nacht zum 1. April soll, das meldeten alle Nachrichtenagenturen mit der gebotenen Aufregung, Genschman gestorben sein. Das klingt im höchsten Maße unseriös. Seit wann können Superhelden sterben?", fragte Zippert, Ex-Chefredakteur der "Titanic" und dort verantwortlich für den "Genschman"-Comic, zum Tode des ehemaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher.
Auch denen, die Nachrufe auf Imre Kertész verfassten, fiel es merklich schwer, sich mit dem Tod des ungarischen Literaturnobelpreisträgers abzufinden. "Seinesgleichen werden wir nicht wieder sehen", schrieb Tilman Krause in der WELT über den Mann, der als Kind ins Konzentrationslager kam, den Holocaust aber überlebte und dann das alles mit Schreiben verarbeitete, zuallererst im "Roman eines Schicksallosen".
Franziska Augstein zitierte Kertész in der SZ mit folgenden Worten:
"Die meisten meinen, ich hätte viel gelitten unter der Schriftstellerei. Ich habe aber nicht gelitten. Das war für mich eine Freude."

Imre Kertész - "einer der letzten Aufrechten der literarischen Moderne"

"Dieser grundanständige Mann war der existentielle Außenseiter per se", schrieb der Dichter Durs Grünbein in der FAZ.
"Fremd in der Welt, der bürokratisierten Gesellschaft, der Ehe, der Nation und unter Schriftstellern sowieso. Ein Niemals-Mitläufer, Verächter sämtlicher Ideologien, einer der größten Morallehrer meiner Zeit, ein echtes Vorbild fürs Leben. Seine Form des Widerstands war die kluge Naivität."
Grünbein hatte öfter mit Imre Kertész telefoniert:
"Nie mehr werde ich nun die sanfte Stimme des Mannes hören, der für mich, nach Samuel Becketts Tod, einer der letzten Aufrechten der literarischen Moderne war."