Aus den Feuilletons

Die Schlachtfelder der Erinnerung

Der russische Präsident Wladimir Putin bei seiner Rede zur Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau
Der russische Präsident Wladimir Putin bei seiner Rede zur Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau © AFP / ALEXANDER ZEMLIANICHENKO
Von Arno Orzessek · 09.05.2015
Große Gedenktage sind Legitimationsmaschinen, schreibt der Historiker Valentin Groeber in der "Taz". Russlands Präsident Putin bestätigte das bei der Siegesfeier zum Kriegsende − und mit einem überraschenden Artikel in der "FAZ".
Es war der Krieg, der neben Kunst und Kultur die Feuilleton-Agenda in der vergangenen Woche prägte... Und näher war es natürlich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa vor 70 Jahren.
"Wir flogen über Berlin, und ich sah die Trümmerwüste. Es sah aus wie das Weltende. Trümmer, Trümmer, Trümmer. Berlin lag in Asche"
... zitierte der Berliner TAGESSPIEGEL in einer Sammlung von "Stimmen der Zeit" den Filmregisseur Billy Wilder.
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG reichte derweil einem illustren Gast-Autor unserer Tage das Wort – nämlich Vladimir Putin.
"Mein Vater hat den Krieg überlebt, fünf seiner sechs Brüder sind gefallen. Meine Mutter hat die Deutschen trotzdem nicht gehasst – ich kann das bis heute nicht begreifen"
... gestand der russische Präsident. Und erzählte von dem Hinterhalt, in den sein Vater geraten war, als er mit einem Sabotagetrupp im Rücken der deutschen Front agierte:
"Jemand hatte sie verraten. Sie kamen in ein Dorf, zogen von dort ab, und als sie wieder zurückkamen, warteten dort die Faschisten auf sie. Sie wurden durch den Wald verfolgt. Er blieb am Leben, weil er sich im Sumpf vergrub, mehrere Stunden darin blieb und durch ein Schilfrohr atmete. Wobei er sagte, dass, als er im Sumpf eingegraben, durch dieses Schilfrohr atmete, er hörte, wie die deutschen Soldaten ganz nah an ihm vorbeigingen, buchstäblich einige Schritte von ihm entfernt, dass er hörte, wie die Hunde kläfften..."
... berichtete Vladimir Putin in der FAZ von einem unerhörten Moment des Krieges. Dessen Ende in diesem Jahr in Russland besonders groß gefeiert wurde.
Und das brachte Richard Herzinger in Rage, der unter dem Titel "Schlachtfeld Erinnerung" in der Tageszeitung DIE WELT wetterte:
"Tatsächlich [...] zielt die zynische Indienstnahme des antinazistischen Gedenkens durch den Kreml [...] darauf, die Befreiung von der NS-Barbarei, wenn nicht ausschließlich, so doch primär für Russlands Glorie zu reklamieren. Nicht nur soll damit die Rolle der Westmächte im Krieg gegen Hitler minimiert werden. Es soll [...] damit auch vergessen gemacht werden, dass inzwischen unabhängige Nationen der ehemaligen Sowjetunion wie die Ukraine nicht weniger unter der deutschen Okkupation gelitten haben."
So Richard Herzinger, der sich von dem Historiker Valentin Groeber bestätigt gefühlt haben mag.
"Jubiläen sind Legitimationsmaschinen", deklamierte Groeber in der TAGESZEITUNG und zeigte sich entsprechend distanziert:
"Man wird den Zweiten Weltkrieg nie vollständig abgetrauert haben. Das institutionelle Reden darüber ist durchsetzt von oberlehrerhaften Formeln, vom moralisierenden Sprechen im Namen der Toten, das ich zum Teil bizarr finde – pfarrerhaft, selbstgerecht und von oben herab."
Andererseits – fügen wir hinzu – kommen an Gedenktagen auch Dinge ans Licht, die es wert sind, erwähnt zu werden.
In der FAZ etwa erzählte der Künstler Günther Uecker, was er als 15-Jähriger auf der Ostsee-Halbinsel Wustrow in den Massenlagern geflüchteter Ostpreußen erlebt hatte:
"Die Frauen schrien und wimmerten. Von einem Arzt wurde ich angeleitet, mit einem Handkantenschlag den Unterkiefer von Frauen wieder einzurenken, wenn sie es selbst in ihrem Schreien nicht mehr konnten. Der Arzt hatte gesagt: Ich schaffe das nicht allein, du musst das lernen. Eine Frau zu schlagen... sie konnten sich selbst nicht von diesem Zustand befreien."
So Günther Uecker – über eine Szene, in der sich das Leid und das Grauen des Krieges beispiellos und beispielhaft verdichten.
Planetarischer Optimismus in Mailand
Unterdessen gab's in den Feuilletons auch ein Gegenwartsprogramm. Ingeborg Harms gelang "ein beglückender Besuch der Expo in Mailand"... Weshalb sie nach vielen allgemein-abstrakten, typisch weltausstellungshaften Gedanken in der Wochenzeitung DIE ZEIT in planetarischen Optimismus verfiel und verkündete:
"Ernst und Euphorie, genau die richtige Stimmung für die Jahrhundertchance, die Welt umzulenken."
Gar nicht begeistert zeigte sich die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG nach der Vorbesichtigung der Venedig-Biennale. Catrin Lorch fand die Werke, für deren Auswahl der ehemalige Documenta-Macher Okwui Enwezor verantwortlich ist, "disparat und überladen" – und lästerte:
"In der [...] Biennale-Ausstellung zeigt sich die Kunst nicht als Königsdisziplin, sondern als Allesfresser."
Noch enttäuschter DIE WELT. Sie titelte: "Lasset, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!" – was natürlich ein Zitat aus Dantes Göttlicher Komödie ist... Und uns an eine andere WELT-Überschrift erinnert: "Dante schön!"
Über die Biennale nun schimpfte Swantje Karich:
"Was passiert, wenn Kunst tief, hart, direkt ist, ein Kurator ihr aber keinen Raum gibt, sondern die Werke wie feindlich gesinnte wilde Tiere in einen engen Käfig schickt, das erleben wir zurzeit in Venedig [...]. Fluchtgedanken. Wutgefühle."
Aufsteigende Impulse bremsen
Dass man deshalb weder flüchten noch den Kurator vermöbeln muss, erklärt sich aus unserer Fähigkeit zur Selbstkontrolle. Und weil der Hirnforscher Joachim Bauer genau darüber ein Buch geschrieben hat, ließ ihn die NZZ im Interview noch einmal das Wichtigste erklären:
"Das Gehirn des Menschen verfügt über zwei Fundamentalsysteme: Ein bottom-up arbeitendes Triebsystem, das auf jeden Reiz reagieren, jeder Versuchung sofort nachgeben und jeden Frust sofort herauslassen will. Und ein top-down wirkendes [...] System, das uns befähigt, aufsteigende Impulse zu bremsen, innezuhalten, abzuwägen und zu überlegen."
Orson Welles hat zumindest beides perfekt in Einklang gebracht: den Willen, Frust abzulassen, und die Forderung der Vernunft. Wie die WELT zu Welles 100. Geburtstag unter dem Titel "Er war zu groß für ein Leben" berichtete, begrüßte er sein nur spärliches Publikum mit den Worten:
"Guten Abend, ich bin Orson Welles – Regisseur, Produzent, Schauspieler, Impresario, Autor, Maler, Zauberkünstler, Star der Bühne, der Leinwand und des Radios; und ich bin ein ziemlich leidlicher Sänger. Warum sind so viele von mir hier und so wenige von Ihnen?"
Was für ein Spruch! Ihnen, liebe Hörer, wünschen wir mit einer Überschrift der SZ:
"Frohsinn in Endlosschleife."
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