Aus den Feuilletons

Die revolutionäre Kraft des Theaters

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Bertolt-Brecht-Denkmal, Bronze-Plastik von Fritz Cremer, vor dem Berliner Ensemble, auf dem Bertolt-Brecht-Platz.
Das Berliner Ensemble im Ostteil der Stadt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Bertolt Brecht gegründet. © POP-EYE / Christian Behring / imago images
Von Klaus Pokatzky · 03.10.2020
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Bis zur Wiedervereinigung war die DDR das Land mit der besten Klassikversorgung und den meisten Theaterbühnen weltweit. Letztere waren dann auch maßgeblich am Umsturz beteiligt, nachzulesen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.
"30 Jahre Einheit", stand in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG. "Da gibt es viele Erfolge und viele Enttäuschungen", fand Inna Hartwich. "Viel Grund zum Nachdenken und viel Grund zum Feiern." Und es gab natürlich so manches in den Feuilletons.
"Die DDR hatte die beste Klassik-Versorgung weltweit. 24 der 76 ostdeutschen Orchester aber haben die Wiedervereinigung nicht überlebt", war im Berliner TAGESSPIEGEL zu lesen. "Auch in der alten Bundesrepublik war die Versorgung mit sinfonischer Klassik besser als in jedem anderen Land der Welt – mit Ausnahme des untergegangenen Arbeiter- und Bauernstaats eben", klärte uns Frederik Hanssen über einen kulturellen deutsch-deutschen Aspekt auf und nannte Beispiele:
"Allein auf der Fläche des heutigen Landes Brandenburg existierten fünf Bühnen mit Orchester und eigenem Opernensemble. Davon ist nur die Musiktheatersparte am Staatstheater Cottbus übrig geblieben, in Senftenberg und Schwedt, Frankfurt (Oder) und Potsdam gibt es längst keine fest angestellten Sängerinnen und Sänger mehr."

Zwischen Indoktrination und Revolution

Vergessen wir die Bretter nicht, die die Welt bedeuten. "In der DDR gab es mehr Theaterbühnen als in jedem anderen Land der Welt – am Umsturz in Ostdeutschland waren sie maßgeblich beteiligt", lasen wir in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. "Natürlich hieß Theater in der DDR auch: politische Indoktrination", schrieb Simon Strauss und erklärte uns dann, wie systemkritische Regisseure und Schauspieler daraus ihr untergründiges Ding machten:
"Handelte ein Stück auf den ersten Blick von der Geschichte und Praxis der sozialistischen Revolution, konnte es auf verdeckte Weise durchaus auch von den schmerzhaften Widersprüchen zwischen individuellem Leben und revolutionärem Anspruch erzählen." Tempi passati.
"Das Einmischen und Einbringen, authentisch mit sich und dem, was man öffentlich macht. Das habe ich mein halbes Leben in der DDR gemacht und das ist auch heute meine Aufgabe", sagte der Kabarettist und Schauspieler Wolfgang Stumph, 1946 geboren und aufgewachsen in Dresden.

Drei von 90 Rektoren kommen aus dem Osten

"Gerade in Ostdeutschland sind die stärkeren Männer manchmal die Frauen", stellte er im Interview mit dem TAGESSPIEGEL fest – und öffnete uns auch die Augen für Unangenehmes: "Von über 90 Rektoren ostdeutscher Hochschulen haben nur drei eine ostdeutsche Biografie. Von den Ministern, Staatssekretären, Vorstandsvorsitzenden will ich gar nicht reden."
Interessiert so was denn den Wessi? "Der Osten wirkt immer noch fremd", hieß es in der NEUEN ZÜRCHER. "Und er ist es in all den Jahren geblieben, auch wenn man inzwischen an der Ostsee Ferien macht, Dresden besucht oder Weimar", beschrieb Johann Michael Möller wohlwollendes Desinteresse der besonderen Art.
"Das Bild Ostdeutschlands in den Medien ist seit dreißig Jahren erschreckend einseitig. Es bessert sich ein wenig, doch mit der Bevormundung ist noch lange nicht Schluss", machte die FRANKFURTER ALLGEMEINE auf die Verantwortung von uns Journalisten unmissverständlich aufmerksam.

Paternalistischer Umgang mit Ostdeutschen

"Es sind gerade Ost-Festspiele in den Medien mit plötzlich überbordendem Verständnis", meinte Stefan Locke. "Man beugt sich über Ostdeutsche, streichelt ihnen verbal den Kopf, will auf einmal 'Lebensleistungen anerkennen' und bekennt sich gratismutig zu Fehlern, die vor dreißig Jahren passiert seien. Und auch wenn das alles angenehmer daherkommen mag als dumpfe Vorurteile, wirkt es bisweilen nicht minder übergriffig. Wie viel mehr Vertrauen ließe sich dagegen wohl gewinnen, ließe man beim Berichten aus Gera, Stendal oder Wittenberg die Ost-West-Brille künftig genauso weg wie in Lüdenscheid, Koblenz oder Osnabrück." Offene Fragen, die spätestens in 30 Jahren bei den Einheitsfeiern zu beantworten sein werden.
"Wird es noch mal 30 Jahre dauern, bis Ost und West keine Rolle mehr spielen?", fragte der TAGESSPIEGEL. "Wenn ich meine Kinder sehe, glaube ich das nicht", antwortete der Schauspieler und Kabarettist Wolfgang Stumph. "Wenn wir von früher erzählen, schauen die uns mit großen Augen an. Die leben im Hier und Heute."

Was wäre die Bundesrepublik ohne die neuen Länder?

In Dresden lebt seit 1996 der Dichter und Büchner-Preisträger Marcel Beyer als gebürtiger Schwabe. "Warum das nicht funktioniert in Ostdeutschland, dass die Menschen herausarbeiten, positiv, den Anteil, den sie gehabt haben an der Veränderung der Bundesrepublik Deutschland", fragte er sich im Interview mit der Wochenzeitung DER FREITAG.
"Dass die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, der ganze Osten und Südosten so gut mit uns reden und handeln können, das hat doch damit zu tun, dass Deutschland aus einem Westteil und einem Ostteil besteht. Wäre die alte Bundesrepublik geblieben wie vor 1990, dann wäre das nicht so."
Dem ist nur noch eins hinzuzufügen. "Man muss das Gute sehen und das andere kritisch", so der Schauspieler und Kabarettist Wolfgang Stumph noch im Interview mit dem TAGESSPIEGEL. "Wir brauchen auch ein bisschen Optimismus, etwas, woraus man Kraft sammeln kann."
Und dazu passt, dass vor den 3. Oktober als Einheitstag noch ein anderes Gedenkdatum zu würdigen war. "An diesem 2. Oktober findet der Tag des Lächelns statt", klärte uns die Wochenzeitung DIE ZEIT auf. "Wohlgemerkt nicht des Grinsens. Es empfiehlt sich, den Unterschied vor dem Spiegel zu üben."
Bitte lächeln Sie. Es lohnt sich.
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