Die personifizierte deutsche Jazzgeschichte

Der neunzigste Geburtstag des Jazzklarinettisten Rolf Kühn wurde in der "FAZ", der "NZZ" und der "Süddeutschen" ausführlich gewürdigt. Im Interview mit der "SZ" erzählt er, wie er sich als kleiner Junge in den Klang der Klarinette verliebte.
"Der Herbst könnte so schön sein", befand die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG. "Er sollte ein unbeschwertes Geniessen werden, ein Sitzen im Nebel, ein Warten auf die ersten reifen Trauben und auf die Melancholie", zählte Daniele Muscionico - und der herbstliche Dichter Theodor Storm hätte uns dabei noch das fallende Laub in den Schoss geworfen und den holden Wein dazu eingeschenkt.
"Doch da ist der Kürbis" nahm uns Daniele Muscionico jede melancholische Anwandlung. "An Strassenrändern, wenn man über Land fährt; im Einrichtungshaus, wo man sich nach einer unverfänglichen Winterdecke umsieht; im Schuhgeschäft wird man über eines der Dinger stolpern." Der Nebel steigt, es fällt das Laub - schenk Dir einen Kürbis.
Pathos ohne Kitsch und Floskeln
"Solches Pathos, völlig frei von Kitsch und Floskeln, kriegen Referenten und Redenschreiber niemals hin", lobt die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG die Rede der Umweltaktivistin Greta Thunberg beim Klimagipfel der Vereinten Nationen in New York. "Die Augen aller künftigen Generationen sind auf euch gerichtet. Und falls ihr euch entscheidet, uns im Stich zu lassen, werden wir euch niemals vergeben", wird die neue Trägerin des Alternativen Nobelpreises zitiert.
"Seit etwa einem Jahr ist Greta Thunberg jetzt eine öffentliche Person", schreibt Claudius Seidl, "aber jene, an die sich ihre Ansprache in New York gerichtet hat, sind im Wesentlichen indifferent geblieben."
Dunkles Kapitel der bundesrepublikanischen Geschichte
Manchmal dauert es eben etwas länger, bis sich etwas zum Guten wandelt. "Wir haben geoutete Minister, Stars in allen Bereichen der Kultur und unzählige andere Homosexuelle, die ihr schwules Leben genießen, Gott sei Dank", fasste die Tageszeitung DIE WELT zusammen - und unterschlug uns dabei den ersten Transgender-Bataillonskommandeur der Bundeswehr.
"Für die Schwulen ging die Nazizeit erst im September 1969 zu Ende", erinnerte Tilman Krause an ein Jubiläum in diesen herbstlichen Tagen "Die gay community hat im Sommer dieses Jahres mit viel Aplomb den Aufstand der Tunten, Drag Queens und Stricher in der New Yorker Christopher Street gefeiert. Dass aber vor 50 Jahren sich auch für die deutschen Homosexuellen wichtige Dinge ereigneten, hat niemand hierzulande so recht auf dem Schirm. Vielleicht weil die Erinnerung an das, was damals zumindest formaljuristisch ein Ende hatte, auch einfach zu schmerzlich ist."
Wohl wahr: Dahinter verbirgt sich nämlich einer der widerwärtigsten politischen und juristischen Aspekte der alten Bundesrepublik. "Wir waren nämlich bis zur Liberalisierung des Paragrafen 175 im Jahr 1969 von allen demokratisch regierten Ländern dasjenige, das die rabiateste Diskriminierung von Homosexuellen betrieb. In der Bundesrepublik (nicht in der DDR!) war bis zum September 1969 der Paragraf 175 in der von den Nazis 1935 verschärften Form gültig."
Bis Gustav Heinemann, der aufrechte Christ aus dem Ruhrgebiet und spätere Bundespräsident, als Bundesjustizminister Ende der sechziger Jahre mit aller Kraft die Reform des Ekelparagraphen vorantrieb.
Ein Ästhet und musikalischer Gentleman
"Rolf Kühn ist die personifizierte deutsche Jazzgeschichte", lasen wir in den FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG zu unserem Jubilar der Woche - "der Ästhet und musikalische Gentleman", so Wolfgang Sandner, "Herr Jazz" wurde neunzig Jahre alt. "Der Jazzklarinettist Rolf Kühn wurde 1929 in Köln geboren", stand in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG.
"1950 wurde er Erster Saxofonist des Rias Tanzorchesters in Berlin. 1956 wanderte er in die USA aus und spielte dort mit Billie Holiday und mehrere Jahre im Orchester des Jazz-Superstars Benny Goodman. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland leitete er von 1962 an das NDR-Fernsehorchester und wurde zu einem der berühmtesten deutschen Jazzmusiker", schrieb Arne Reimer.
Ob er denn auch im hohen Alter noch jeden Tag übe, fragte er unser Geburtstagskind. "Jeden Tag! Ungefähr zwei Stunden", war die Antwort - und dieses kann jeder bestätigen, der dem ganz bescheidenen angenehmen Mann mit seinem Klarinettenkoffer schon einmal im Fahrstuhl unseres Berliner Funkhauses begegnet ist, wo er sich des Abends seinen ruhigen Raum zum Üben sucht.
Die Klarinette als Lebenspartnerin
"Manchmal landet man im Tal der Tränen", hieß es in der NEUEN ZÜRCHER zum Üben mit einem Musikinstrument an sich. "Kein Wunder, sind Übende oft einsam. Ihre Vereinzelung mag auch an jene Gestalten erinnern, die nur mit Büchern und Bildschirmen, mit Pads und Konsolen kommunizieren. Besser vergleicht man sie allerdings mit den Yogi und Yogini, die Geist und Körper dank Gymnastik und Meditation in Balance bringen", meinte Ueli Bernays.
"Ich hab' mich als kleiner Junge in ihren Klang verliebt und sie als Lebenspartnerin akzeptiert. Es ist eine komplizierte Geliebte, aber ich bin froh, dass sie noch da ist", erzählte Rolf Kühn im Interview mit der SÜDDEUTSCHEN.
"Mein Selbstvertrauen kam durch enormen Fleiß und die vielen Erfahrungen, die ich schon in Bands gemacht hatte. Ich war damals ja auch schon 27. Mein Vater war Akrobat im Zirkus und ich habe als kleiner Junge mit ihm und meinem Opa hart trainiert, auch wenn die Turnhalle bei Schnee und Eis sehr kalt war. Da habe ich gelernt, was Disziplin bedeutet."
Glückwunsch Rolf – und bis bald im Fahrstuhl!