Aus den Feuilletons

Die Katastrophe kommt erst noch

04:23 Minuten
Brennender Planet Erde aus dem All betrachtet.
Der Weltenbrand steht den nihilistischen und hedonistischen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts noch bevor, schreibt die "Neue Zürcher Zeitung". © imago-images / Action Pictures
Von Arno Orzessek · 14.05.2021
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Die "NZZ" kann der Hoffnung auf eine Zeit des Feierns nach der Pandemie nichts abgewinnen. Man feiere schon längst Exzesse, "als ob es kein Morgen gäbe" und die Erfahrung einer Katastrophe stehe unseren hedonistischen Gesellschaften noch bevor.
Soweit es Ihr Herz erwärmt, wenn in einem Artikel oft das Wort 'Liebe' vorkommt - schlagen Sie die Tageszeitung DIE WELT auf! Dort können Sie Auszüge aus dem Vorwort lesen, das der Schriftsteller Uwe Timm zu dem Briefwechsel zwischen Albert Camus und Maria Casarès geschrieben hat - erschienen im Rowohlt Verlag unter dem Titel "Schreib ohne Furcht und viel".

Die Liebe eines Schriftstellers und einer Schauspielerin

Was die Zahl seiner Liebschaften anging, beansprucht Camus vermutlich Augenhöhe mit Giacomo Casanova… Doch an Maria Casarés hat er Briefe geschrieben, als sei sie die Eine:
"'Ich liebe Dich auf viele Arten, vor allem aber so - mit dem Gesicht des Glücks und jenem Strahlen des Lebens, das mich immer zutiefst aufwühlt. Ich brauche Dich, um mehr als ich selbst zu sein. Das wollte ich Dir letzte Nacht mit der Unbeholfenheit der Liebe sagen."
Casarès ihrerseits machte klare Ansagen: "'Das Glück, das Du mir schenkst, indem Du existierst, durch die bloße Tatsache, dass Du existierst (nah oder fern), ist groß, aber, ich muss es zugeben, etwas vage, etwas abstrakt, und Abstraktion hat noch nie eine Frau beglückt, jedenfalls nicht mich. Was willst Du machen? Ich brauche Deinen langen Körper, Deine gelenkigen Arme, Dein schönes Gesicht, Deinen klaren Blick, der mich aufwühlt, Deine Stimme, Dein Lächeln, Deine Nase, Deine Hände, alles." - Maria Casarès an Albert Camus.

Leseempfehlungen gegen den Wahnsinn

"Radikale Romantik" nennt Uwe Timm ihre Liebesbeziehung - nachzulesen in der WELT. In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG erteilt der Schriftsteller Michael Krüger, ehemals Leiter des Hanser Verlags, "einige Ratschläge und vor allem Leseempfehlungen, um genau jetzt nicht dem Wahnsinn anheimzufallen." Am meisten amüsiert uns Krügers vorzüglich schlecht gelaunte Zeitkritik.
"Am Anfang der Pandemie wurde mir mehr als deutlich gemacht, dass ich - über siebzig Jahre alt - mit einem Bein eh schon im Grab stehe, was nicht zur Aufhellung meiner Melancholie beigetragen hat. Es war mir immer ein Dorn im Auge, dass die nachfolgende Generation ohne größere Gewissensbisse auf die Älteren und Alten verzichten wollte, während doch jeder, der noch ein paar Tassen im Schrank hat, sieht, dass dann nur Unsinn entsteht: ein Online-Mob hat sich der Algorithmen bemächtigt, die unser Leben regeln sollen, eine gleichermaßen zum Wahnsinn wie zum Verbrechen neigende Gruppe von Hackern entscheidet über Wahlen und Geldströme, ein unerfahrener junger Mann bleibt im Amt, obwohl er als sog. Verkehrsminister Hunderte Millionen Euro verplempert hat."
So der SZ-Autor Michael Krüger, der eine Unsitte vieler Älterer meidet - sich nämlich bei den Jungen einzuschleimen, als sei Jugend eine höhere Existenzform.

Der Nihilismus und seine Folgen

Derweil macht die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG einer populären Hoffnung den Garaus: "Ist Corona einmal überwunden, wird die Welt in die Goldenen Zwanzigerjahre eintreten - das propagieren die Medien gerne. Dabei geht vergessen, dass wir längst schon Exzesse feiern, als ob es kein Morgen gäbe", heißt es in der Unterzeile des Artikels "Vielleicht liegen die 'Roaring Twenties' bereits hinter uns", verfasst von dem Schriftsteller und Historiker Philipp Bloom.
"Der nihilistische Hedonismus der 1920er Jahre war eine Antwort auf den Bankrott einer Welt, auf den Hochmut vor dem zivilisatorischen Fall, in dem die mächtigsten Nationen der Welt einander gegenseitig zerfleischten. Der nihilistische Hedonismus des frühen 21. Jahrhunderts ist vorübergehend durch eine Pandemie unterbrochen worden, die ein direktes Resultat einer unaufhaltsamen, expansiven Globalisierung und Naturzerstörung ist. Sie trifft nicht auf Gesellschaften, die am Ende einer Katastrophe stehen, durch welche alle Prioritäten und Wertvorstellungen neu geordnet werden müssen, im Gegenteil: Diese Erfahrung steht ihnen noch bevor."
Das Foto in der NZZ zeigt einen schick gekleideten Mann, der vom Dach eines Hauses in die lodernden Waldbrände Kaliforniens blickt. Brände, die man nach der Lektüre des Artikels als Teil des anbrechenden Weltenbrands begreift.
Doch bevor alles untergeht, kommt noch das Wochenende. Und falls Sie noch nicht wissen, wohin Sie sich in Ihrer freien Zeit orientieren sollen - eine SZ-Überschrift rät: "Hin zur Schönheit".
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