Aus den Feuilletons

Die Grenzen der Ehrlichkeit

Pressefreiheit und Meinungsfreiheit sind bedroht
Immerhin drei Viertel der Bundesbürger halten deutsche Medien für vertrauenswürdig, schreibt die "Tageszeitung". © Imago / Martin Bäuml Fotodesign
Von Klaus Pokatzky · 01.11.2015
"Die Welt" betont, dass man selbst dem unappetitlichsten politischen Gegner das Menschsein nicht absprechen darf. Der "Tagesspiegel" schreibt über die Glaubwürdigkeit deutscher Medien und die "Tageszeitung" über die Lego-Sammel-Aktion von Ai Weiwei.
"Jeder fünfte Bundesbürger hält die Medien in Deutschland einer Umfrage zufolge für 'Lügenpresse'." Das teilt uns die Tageszeitung TAZ mit - zu einer Befragung, die der Westdeutsche Rundfunk in Auftrag gegeben hatte. "Fast drei Viertel der Befragten teilen den Vorwurf der 'Lügenpresse' allerdings nicht." Der Pressebeschauer hofft, dass Sie zu den drei Vierteln gehören und versichert: hier wird nie gelogen.
"Die höchste Glaubwürdigkeit bei 77 Prozent der Befragten genießt nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap der öffentlich-rechtliche Hörfunk." Das steht wiederum im Berliner TAGESSPIEGEL zu einer anderen Meinungsforschungsaktion, diesmal von Bild am Sonntag in Auftrag gegeben. Ich baue auf Ihr Vertrauen. Und werde ganz, ganz ehrlich sein.
Mitglied einer "widerwärtigen Partei"?
Aber wie ehrlich dürfen wir denn sein - etwa so wie der Pianist Igor Levit: "einer der bedeutendsten Interpreten der jungen Generation", wie die Tageszeitung DIE WELT den ehrlichen Klavierspieler charakterisiert, der 1987 in Russland geboren wurde und mit acht Jahren nach Deutschland kam?
"Am Wochenende hat er via Twitter auf den entlarvenden TV-Auftritt eines AfD-Funktionärs hingewiesen, der über eine angebliche Vergewaltigung eines Mädchens durch Asylbewerber schwadronierte und auf die Frage nach Beweisen ins Stammeln geriet", schreibt Lucas Wiegelmann in der WELT - und zitiert Igor Levit, der den Mann von der Partei "Alternative für Deutschland" als "widerwärtigen Drecksack" bezeichnet hat und als "Mitglied der widerwärtigen Partei AfD. Menschen, die ihr Menschsein verwirkt haben".
Das war richtig ehrlich - so ehrlich, wie man allenfalls unter sehr guten Freunden frühestens nach dem mindestens sechsten gemeinsamen Bier sein darf. "Aber dem politischen Gegner, und sei er noch so unappetitlich, das Menschsein abzusprechen, gehorcht keiner toleranten, sondern einer totalitären Logik", kritisiert Lucas Wiegelmann den Pianisten: "So stellt man sich auf eine Stufe mit denen, die es zu demaskieren gilt." Gut gekontert, Kollege Wiegelmann. Ich würde gerne mal mit Igor Levit sechs Bier trinken, mindestens.
"Von der Mehrheitsgesellschaft erwarte ich schon lange kein Verständnis mehr", steht in der TAZ. "Wer mit einem Behinderten lebt, muss sich daran gewöhnen, angeglotzt zu werden", schreibt Cigdem Akyol, die einen behinderten Bruder hat, über ihre Erlebnisse beim gemeinsamen Spazierengehen oder Reisen: "Aus mir nie verständlichen Gründen schauen die Leute einen unverhohlen an, manche bleiben sogar stehen." Auch diese Form von Ehrlichkeit empfiehlt sich nicht. Ganz offen gesagt: Glotzen ist unzivilisiert.
Lego-Logik: Zusammenarbeit mit Ölkonzern, aber nicht mit Künstler
"Lego will Ai Weiwei keine Steine für ein Kunstwerk in Australien verkaufen", lesen wir ebenfalls in der TAZ - zu einem Projekt des nun ja in Berlin lebenden chinesischen Künstlers Ai Weiwei, der mit Legosteinen Porträts prominenter australischer Menschenrechtsaktivisten zusammenstellen wollte. Lego lehnte die Lieferung ab, weil es keine politischen Aktionen unterstütze. "Im letzten Jahr hatte der Konzern mit dem Ölgiganten Shell kooperiert", schreibt Nicholas Potter über die Lego-Logik: "Autofahrer, die an Shell-Tankstellen 30 Liter Super oder mehr tankten, bekamen Lego-Rennautos geschenkt." Ai Weiwei wäre aber nicht Ai Weiwei, wenn er daraus nicht gleich wieder eine Aktion gestalten würde.
"Nach dem Streit hat der 58-Jährige nun in großen Städten rund um den Globus Autos aufstellen lassen, in die Unterstützer wie in eine Spardose durchs Dach Bausteine einwerfen können. In Berlin steht ein Sammelauto vor dem Martin-Gropius-Bau. Es wird so fleißig gespendet, dass Ai Weiwei nun eine größere Kunstaktion über Meinungsfreiheit und politische Kunst plant."
Schade, dass ich keine Lego-Steine mehr habe. Ehrlich.
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