Aus den Feuilletons

Die Geister, die wir rufen

04:20 Minuten
Ein maskierter Mann blickt von einem Treppengelände herab.
Uaaahh! Halloween - das echte, nicht den Horrorklassiker von 1978 - beschäftigt die Feuilletons. © imago/United Archives
Von Hans von Trotha |
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Mit der Vorliebe mancher Netflix-User, Serien im Schnelllauf zu schauen, und mit den Ursprüngen von Halloween beschäftigen sich die Feuilletons. Auch über den Sinn und Unsinn von Künstlicher Intelligenz sinniert mancher Journalist.
Ab wann gilt ein Feuilleton-Artikel als gelesen? Die Frage stellt sich, zumal die SÜDDEUTSCHE meldet, dass Netflix einen Film als gesehen rechnet, "wenn ein Zuschauer mindestens 70 Prozent davon anschaut – und das geht mit der Vorspultaste natürlich schneller". Die Vorspultaste, das ist "eine Funktion, mit der Kunden Filme und Serien langsamer oder schneller anschauen können, genauer gesagt in halbem- bis anderthalbfachem Tempo. Neu ist das nicht."
Auch darauf weist die SÜDDEUTSCHE hin. "Aber es regt sich Widerstand unter Filmemachern. … Comedy-Guru Judd Apatow jammert: 'Wir gaben euch schöne Dinge. Lasst sie so, wie sie gesehen werden sollten.'"
Und wie ist das mit Texten? Mit in langen Spalten über riesige Papierseiten verteilten Feuilleton-Texten gar? Werden die so gelesen, wie sie gelesen werden sollten? In der gedruckten Zeitung muss man ja nicht einmal scrollen und ist mit einem Blick zwei Artikel weiter.
Wer ist dann Schuld? Eine wie Sie, liebe Hörerin, als Leserin? Oder einer wie Thomas Steinfeld, der uns mit dem Cliffhanger "Gespenster und Vampire haben den technischen Fortschritt und die Psychoanalyse überstanden. Aber eine unheimlich zeitgemäße Gruselgestalt setzt ihnen sehr zu" in seinen Halloween-Text locken will, den Spoiler aber selbst direkt darüberschreibt, in dem er – sich oder uns, das ist nicht ganz klar – zuruft: "Selber Zombie".

An Halloween herrscht im Fernsehen das nackte Grauen

Es handelt sich übrigens um einen der Texte, die das Feuilleton alljährlich mit der Klage füllen, Halloween sei a) unchristlich und habe b) in Europa nichts verloren, anstatt es halt zu ignorieren oder wenigstens anderthalb Mal schneller abzuhandeln, nicht auf einer halben Zeitungsseite – wobei die SÜDDEUTSCHE eine weitere halbe Seite folgen lässt, unter dem unbedingt unterschreibenswerten Motto: "Im Fernsehen herrscht … oft das nackte Grauen."
– Pardon, das war jetzt genau die ein halbes Mal zu schnell gelesen: In Wahrheit steht da: "Im Fernsehen herrscht an Halloween oft das nackte Grauen."
Aber Halloween ist im Kern keineswegs so heidnisch, wie die Kirchen und die ihnen aus unerfindlichen Gründen folgenden Feuilletons tun – auch das der TAZ zum Beispiel, wo Tim Caspar Boehme angesichts von Christoph Röhls Benedikt-Film "Verteidiger des Glaubens" und eines Biopics mit dem Titel "Zwingli" von "christliche(m) Kino zu Halloween" spricht. Halloween ist christlich, wenn auch halt nicht evangelisch: Der Name kommt aus Irland von All Hallows Eve, also: Abend vor Allerheiligen. Wie christlich soll's denn noch sein?

KI - das sind die wahren Geister

Mit richtigen Geistern nimmt es Axel Weidemann in der FAZ auf – mit solchen, die wir unentwegt rufen, und die uns vielleicht irgendwann ihrerseits loswerden wollen: Die Rede ist von "künstlichen Intelligenzen".
"Wenn es gut läuft, dann werden uns künstliche Intelligenzen zunehmend eben nicht die Arbeit abnehmen, sondern Aufgaben, von denen die Menschen noch gar nicht wussten, dass sie sich überhaupt bewältigen lassen. Das kann die Verarbeitung von rauen Datenmengen, für deren Bewerkstelligung Menschen Zeiträume bräuchten, die ihre Lebensspanne übersteigt, ebenso betreffen, wie Aufgaben, die es erfordern, mehrere Kommunikationsvorgänge auf einmal abzuwickeln. Das zumindest ist einer der Gründe, warum Wissenschaftler, die Künstliche Intelligenzen erforschen, entwickeln und trainieren, sich vom Schach- oder Go-Brett auf Videospiele, genauer Echtzeit-Strategie-Spiele … verlegt haben."
Allerdings: "Bis ein solches Programm wirklich 'in einer realen Umgebung mit unvorhersehbaren Wendungen intelligent' reagiere, werde es noch lange dauern", zitiert Weidemann in der FAZ den schwedischen Forscher Marcus Liwicki.
Kann man das eigentlich auch so schnell spielen, wie man will? Also auch eineinhalb mal schneller als die anderen? Könnten wir so vielleicht die KI … Ok, schlechte Idee.
Regisseur Brad Bird, Macher von "Die Unglaublichen", sieht im netflixschen Vorspielmodus laut SÜDDEUTSCHER überhaupt eine "weitere spektakulär schlechte Idee", und ("Spider-Man")-Regisseur Peter Ramsey twitterte: "Wollen Kunden jetzt auch 1,5 x schneller essen und Sex haben?" - Was einem ja egal sein kann, solange man selbst nicht dabei ist, nicht aber Ramseys Folgefrage: "Muss wirklich alles für die Faulsten und Geschmacklosesten entworfen werden?"
Darüber sollten wir nachdenken. So langsam wie möglich.
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