Aus den Feuilletons

"Die Franzosen sind irrsinnig verunsichert"

Von Burkhard Müller-Ullrich · 01.06.2014
In der Kulturpresseschau geht es unter anderem um die Aufarbeitung der "Spiegel"-Geschichte, um den verstorbenen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und um den Regisseur Wim Wenders, der sich zu Frankreich und Europa äußert.
"Der SPIEGEL ist eben auch nur ein Nachrichten-Magazin aus Deutschland mit einer deutschen Vergangenheit, und die Aufarbeitung seiner Geschichte begann, wie bei vielen anderen deutschen Unternehmen und Pressehäusern, erst spät."
Dieser Satz steht, man staune!, im morgen erscheinenden SPIEGEL, der die Aufarbeitung seiner Geschichte mit der Enthüllung weiter treibt, dass einer der frühen Mitarbeiter ein Nazi-Agent von besonderem Kaliber gewesen war: ein Mann der von sich selber schrieb:
"Ich habe in diesem Krieg niemals eine Uniform getragen, und dennoch gab mir die unverbrüchliche Verbundenheit mit den Kameraden an der Front die Stärke auszuhalten",
ein Mann, der 1946/47 von den Amerikanern verhört wurde und über den sie urteilten, er sei einer "der erfolgreichsten und potentiell gefährlichsten deutschen Agenten während des Krieges gewesen."
Paul Fidrmuc war sein Name und was ihn für einen weltgeschichtlichen Augenblick so hochgefährlich machte, war die Tatsache, dass er drei Tage vor der Landung der Alliierten in der Normandie Ort und Zeit der Operation der deutschen Abwehr korrekt gemeldet hatte. Bloß fand sein Bericht keinen Glauben in Berlin.
Hitler war überzeugt, dass es sich um eine Irreführung, eine Erfindung handele - und letzteres stimmte vielleicht sogar, denn Fidrmuc war ein Schlitzohr und finanzierte sich sein schönes Leben in Lissabon mit allerlei Erfindungen. Aber auch Lügner liegen manchmal richtig.
Und auch Nachrichtenmagazine bringen manchmal Stories, deren Tonfall sicher anders klänge, wenn es nicht zufällig um die eigene Geschichte gehen würde. So aber heißt es fast stolz:
"Keine Biografie wurde je über ihn geschrieben, kein SPIEGEL-Artikel, kein Zeitungsartikel, der sein Leben und Wirken reflektiert hätte."
Das kann man nun nicht gerade von einem anderen Mann behaupten, der ganz groß in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG gewürdigt wird, ein Mann, über den vielleicht nicht alles, aber doch sehr vieles schon gesagt wurde, dessen Leben und Wirken ausgiebig reflektiert wurden, und dessen einstiges Arbeitszimmer von seiner neuen Benutzerin Rachel Salamander, welche jetzt die Frankfurter Anthologie herausgibt, mit folgenden Worten besungen wird:
"Das helle, freundliche Zimmer im vierten Stock des Gebäudes der FAZ, auf dem sich die Feuilletonredaktion befindet und wo in einiger Entfernung der Herausgeber Frank Schirrmacher wirkt, ist das schönste Zimmer auf der Etage. Da sitze ich nun in seinem Reich, in dem Literaturgeschichte geschrieben wurde und von dem immer Wirbel ausging."
Das Wort Reich mag als Hinweis dienen: die Rede ist von Marcel Reich-Ranicki, der vor 94 Jahren geboren wurde und im letzten September gestorben ist. Daneben bringt die FAZ einen Artikel des Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Heinrich Detering, der offenbar die Germanistik mit dem Vollblutkritiker nachträglich versöhnen möchte, indem er schreibt:
"Zu viele Mitglieder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung etwa, sprechen wir es ruhig aus, wollten ihn lieber doch nicht in ihren literarischen und germanistischen Reihen haben. Das war, das bleibt - um das Mindeste zu sagen - traurig."
In der WELT steht ein Interview mit Wim Wenders, das einerseits von seinen jüngsten Filmen und Filmprojekten handelt, andererseits aber von Frankreich und Europa. Wenders selbst gehört zu jenen Deutschen, für die es im Schüleralter cool war, Französisch zu lernen und einen französischen Brieffreund zu haben. Deren erste Auslandsreise nach Paris führte und die sich eine Ente, pardon: einen 2CV zulegten. Jetzt ist Wenders' Befund folgender:
"Die Franzosen sind irrsinnig verunsichert, das spüre ich seit Jahren. Ich bin oft in Paris. Es gibt keine europäische Großstadt, finde ich, wo die Menschen so gehetzt, nervös und ängstlich sind wie in Paris. Metro in Paris zu fahren ist ein ganz anderes Erlebnis als S-Bahn in Berlin. Die Franzosen hegen auch die geringsten Zukunftshoffnungen von allen EU-Ländern."
Soweit Wim Wenders in der WELT - und die große Frage wird künftig sein, ob die Franzosen mehr Europa oder mehr die Deutschen für ihre Misere verantwortlich machen.