Aus den Feuilletons

Deutschlands erotischer Hang zu Untergangsfantasien

Flüchtlinge warten am 9.12.2015 vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales Lageso in Berlin in einem Wartezelt. In dem Amt in Berlin Moabit können sich Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in Deutschland registrieren lassen oder weitere Leistungen zur Unterstützung beantragen.
Mittlerweile wenigstens überdacht: Warteschlangen vor dem Berliner Lageso im Dezember © picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Von Paul Stänner · 22.01.2016
"Im Augenblick lauert das Ende überall", konstatiert die "WELT", die Deutschen sähen überall den Untergang. Mit dieser Feststellung eröffnet sie ein Feuilleton-Dossier darüber, ob Deutschland die Einwanderung wird handhaben können - eines der Themen in der Kulturpresseschau.
"Das christliche Abendland, insbesondere das deutschsprachige, hat einen erotischen Hang zu Untergangsfantasien…" schreibt Ulf Poschardt in der WELT.
Stellen wir uns einen syrischen Flüchtling vor, aus Aleppo geflohen, der in Berlin vor dem Lageso steht und versucht, das Land seines Exils zu begreifen. Ulf Poschardt erklärt ihm die deutsche Gemütslage: "…im Augenblick lauert das Ende überall. Die Kanzlerin? Am Ende. Das Abendland? Kraftlos, entkernt, zombiehaft. Unsere christliche Religion? Bedroht, verfolgt, geknechtet."
Der Asylsuchende ist erstaunt. Eigentlich wollte er in ein starkes Deutschland. Aber so?
Unter dem Titel "Schicksalstage einer Kanzlerin" eröffnet die WELT auf über zwanzig Seiten eine Diskussion über das, was nicht nur der Kanzlerin, sondern uns allen bevor steht. Es geht um das Geld, das vermutlich für die Flüchtlinge reichen wird, es geht um Freiwillige, die sich geschätzt fühlen, es geht um Gewalt gegen Frauen in deutschen Unterkünften und dennoch – Ulf Poschardt stimmt seine Leser auf den Tenor des seitenstarken Feuilletons ein: "Die Debatten über Flüchtlinge und Zuwanderung werden realistischer und konkreter."
Eine realistische Debatte - das wird den Antragsteller wohl freuen.

"Staatsversagen ist eine polemische Phrase"

Weiter im Thema: "Staatsversagen" ist dröhnend ein Gespräch überschrieben, dass Andreas Zielcke in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG mit dem Berliner Rechtsprofessor Christoph Möllers geführt hat. Möllers reicht die Klagen über das Staatsversagen an die Kläger zurück: "Wer das Versagen des Staats behauptet, muss darlegen und rechtfertigen, was er von ihm erwartet. Das aber gehört zum laufenden politischen Prozess. So gesehen ist die Formel vom 'Staatsversagen' erstmal nur eine polemische Phrase." Er rät dem Staat, selbstbewusster aufzutreten, nämlich: "Die Politik weicht zunehmend dem Problem aus, sich kritisch mit der Wahrnehmung ihrer Klientel auseinanderzusetzen. Statt zu sagen, hier habt ihr Unrecht, nimmt man die verbreitete Wahrnehmung als gegebene politische Tatsache hin."
Das wird den Schutzsuchenden vielleicht erst interessieren, wenn er einige Jahre hier gelebt hat. Aber an eines muss er sich gleich gewöhnen: unser Fernsehen.

"Es ist provinziell. Es ist ekelhaft"

Im Berliner TAGESSPIEGEL schreibt Johannes Schneider eine – wie er es nennt – "letzte Liebeserklärung an das RTL-Dschungelcamp". Man hofft inständig, dass kein Flüchtling genug Sprachkompetenz besitzt, diesen Artikel lesen zu können. Zum Beispiel einen Satz wie: "Ich glaube, ich habe das RTL-Dschungelcamp wirklich geliebt. Intellektuell geliebt, um genau zu sein." Man dachte, das Dschungelcamp sei Spaß für Primaten, aber nein, lehrt uns Schneider anhand einer früheren Ausstrahlung: "Nirgendwo sonst wurde an diesem Abend so mit Rezeptionsklischees gespielt, wurden Erwartungshaltungen gebrochen, wurde das eigene Medium so virtuos mitreflektiert. Diese Folge des Dschungelcamps war so diskurssatt wie eine ganze Suhrkamp-Bibliothek".
Der Flüchtling, nach einer Folge des Dschungelcamps schon fast wieder in Italien, fragt sich, in welcher Universität Johannes Schneider wohl am Suhrkamp-Regal vorbeigelaufen ist. Die SÜDDEUTSCHE ist da sarkastischer und direkter: "Tiere essen" lautet die Überschrift und man weiß nicht, geht es um Leute, die Tiere essen oder um Leute, die wie Tiere essen, was ja beides im Dschungelcamp reflektiert wird. Fazit: "Es ist provinziell. Es ist ekelhaft. Es ist bedeutungsfrei. Es ist herrlich deutsch."
Herrlich deutsch ist, wie wir wissen, vor allem die Hauptstadt, die sich immer wieder Späße leistet, die andere kaum komisch finden. Diesmal ist nicht die Politik kreativ, sondern die Akademie der Künste verleiht dem Theatermacher Frank Castorf ihren Großen Kunstpreis. Noch nicht komisch, aber: Überreichen muss ihn ausgerechnet der Regierende Bürgermeister Michael Müller. Der war kaum im Amt, da war es eine seiner ersten Entscheidungen, den Vertrag mit Frank Castorf 2017 auslaufen zu lassen. Das wird ja ein schönes Zusammentreffen werden. Und die Akademiker feixen sich eins. Deutscher Humor eben – der Flüchtling ist da schon glücklich wieder in Aleppo.
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