Aus den Feuilletons

Der Schrebergarten als gesamtgesellschaftliche Utopie

04:10 Minuten
Ein Schrebergarten in München.
Kleingärten sind aus den deutschen Großstädten nicht wegzudenken. © imago/Westend61
Von Klaus Pokatzky · 25.09.2019
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Der gestresste Großstädter braucht Erholung und die finde er im Schrebergarten, weiß die "NZZ". Durch alle gesellschaftlichen Schichten würde dort in Beeten gearbeitet. Ein Naherholungsgebiet mit utopischen Qualitäten, meint "NZZ"-Feuilletonist Oliver Herwig.
"Verzicht ist eine Freiheitsgeste", ruft uns die Tageszeitung DIE WELT zu. "Tatsächlich ist Verzicht die im Zweifel höhere (bei manchen: höchste) Form der Mündigkeit und Verantwortung und damit der Freiheitsexerzitien", meint Ulf Poschardt. "Es ist eine eher parvenühafte Vorstellung, dass Verzicht Unfreiheit ist."

Britischer Volkssport: Premierbeleidigung

Und da wir natürlich keinesfalls zu den Parvenüs gehören wollen, fragen wir uns gleich, worauf wir denn am schnellsten verzichten können. "Ehe Großbritannien aus den Fugen geriet, galten dort eiserne politische Gesetzmäßigkeiten", lesen wir im Berliner TAGESSPIEGEL. Keine Missverständnisse bitte: Auf Großbritannien wollen wir selbstverständlich nicht verzichten; aber auf seinen ersten Mann liebend gerne. "Fieser Kerl, Clown, Scharlatan – Johnson zu beleidigen ist zum gesetzlich geschützten Volkssport geworden", schreibt Sebastian Borger.
"Das Verhältnis von Premierminister Boris Johnson zur Wahrheit weise Ähnlichkeiten mit einem ‚unehrlichen Immobilienmakler‘ auf, teilte vergangene Woche ein Anwalt dem Londoner Supreme Court mit." Die höchsten Richter dort haben bekanntlich das Unterhaus wieder in Kraft gesetzt. "Sie erklärten die ‚rechtswidrige‘ Schließung des Parlaments für null und nichtig, verweigerten aber eine Antwort auf die Frage nach Johnsons gestörtem Verhältnis zur Wahrheit." Dann bleiben wir ganz bei den Fakten. "Die Rechtslage ist nun so, als wäre nichts passiert", steht in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG.
"Im Ergebnis erklärte das Gericht die Anordnung der Königin, die in der Begründung ausdrücklich aus der Verantwortung genommen wird, für nichtig", schreibt der Berliner Rechtsprofessor Christoph Möllers zum Londoner Urteil. "Wenn es in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit trotzdem so einhellig als Sieg des Parlamentarismus gefeiert wird, so vermutlich auch deswegen, weil der Eingriff eines Verfassungsgerichts unsere Erwartungen bedient", heißt es in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG zu einer parlamentarischen Monarchie, die immer noch keine geschriebene Verfassung kennt.

Papierlose Verfassung und verstaubtes Mehrheitswahlrecht

"Amerikanische Beobachter empfehlen häufig mit dem Gestus milder Herablassung die Einführung einer geschriebenen Verfassung, was freilich nichts anderes wäre als die vollendete Anpassung des Königreichs an den immer noch von den Vereinigten Staaten definierten Goldstandard des Verfassungsstaates", meint der Würzburger Rechtsprofessor Florian Meinel. "Die Europäer und gerade die Deutschen sind mit Recht zurückhaltender und raten stattdessen zur Bildung überparteilicher Mehrheiten." Das kann leicht raten, wer ein solch kluges Wahlsystem hat wie die Deutschen und nicht das verstaubte Mehrheitswahlrecht der Briten. Von den Deutschen lernen, heißt in diesem Falle tatsächlich mal Demokratie lernen, meine spinnerten Briten!
"Freiheit, Gleichheit, Blütezeit", skandiert da die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG als uralte politische Losung. "Der Schrebergarten ist für gestresste Stadtbewohner inzwischen das neue Naherholungsgebiet, vielleicht sogar die letzte gesamtgesellschaftliche Utopie (nach dem Freibad)", findet Oliver Herwig. "Über fünf Millionen Menschen nutzen Kleingärten von durchschnittlich 370 Quadratmetern." Also noch etwas, wo andere durchaus mal von den Deutschen lernen können – denn: "Zwischen Büschen und Beeten trifft sich die halbe Stadt und arbeitet im Kollektiv, wenn auch jeder für sich. Werktätige und Kopfarbeiter, Rentner, Alleinerziehende und Familienmenschen entspannen einträchtig im Schweisse ihres Angesichts."
Weiter so.
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