Aus den Feuilletons

Der Baum das brennende Lebewesen

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Das Foto zeigt verbrannte Bäume und verbrannte Erde.
Wir würden Bäume als Gebäude betrachten und nicht als Lebenwesen, so der französische Philosoph Emanuele Coccia in der "Welt". © picture alliance / Joao Laet
Von Arno Orzessek · 31.08.2019
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"Wir verüben Massenmord an Bäumen" meint der französische Philosoph Emanuele Coccia in der "Welt". Bei den Bränden im Amazonas sowie in Sibirien und Kalifornien stürben "Hunderttausende von Lebewesen", erklärt Coccia und fordert eine neue Betrachtung der Bäume.
"Feiglingsspieler grillieren unseren Planeten" – so betitelte die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG einen Essay von Niall Ferguson. Der britische Historiker erklärte zunächst, wie ein Feiglingsspiel, englisch chicken game, eigentlich abläuft – was indessen jeder weiß, der den Film "Denn sie wissen nicht, was sie tun" mit James Dean kennt: Zwei Autos rasen nebeneinander auf eine Klippe zu – und wer zuerst aus seinem Gefährt springt, hat verloren.
"Tatsächlich [so Niall Ferguson] hat man allmählich das Gefühl, als führe die ganze Welt ein extremes Feiglingsspiel mit mehreren Teilnehmern auf. Boris Johnsons Trips nach Berlin und Paris […] [etwa] waren eindeutig Teil eines diplomatischen Feiglingsspiels. Der britische Premierminister wiederholte seine Bereitschaft, über die Klippe eines Brexits ohne Abkommen zu springen, wenn die EU nicht bereit ist, den Backstop für Irland fallenzulassen. […] Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron [wiederholten] letztlich ihr Bekenntnis zum vorhandenen Austrittsabkommen. Bumm!" Lautmalte Niall Ferguson, der in der NZZ auch dem brasilianischen Präsidenten Bolsonaro in Sachen Regenwaldbrand ein Feiglingsspiel unterstellte.

Bäume sind keine Gebäude

Den radikalsten Aufsatz zum Schicksal der Bäume veröffentlichte allerdings die Tageszeitung DIE WELT. Unter dem Titel "Wir verüben einen Massenmord an den Bäumen" behauptete der französische Philosoph Emanuele Coccia: "Bäume leben viel mehr als wir, sie denken, fühlen und interagieren mit der Umwelt auf eine viel radikalere Weise, als wir es tun können. Jeder kann einen Hund von einer Katze unterscheiden, doch wer kennt den Unterschied zwischen dem Blatt einer Buche und dem einer Ulme? Sibirien brennt. Der Amazonas brennt. Kalifornien brennt. Das Problem liegt schon in der Art und Weise, wie wir darüber reden und denken. Wir sprechen über brennende Bäume, als wären es Gebäude, die brennen. Als wären sie Steine. Dabei brennen Hunderttausende von Lebewesen." Emanuele Coccia in der WELT.
Zu einem ganz anderen Thema ebenfalls auf Attacke gebürstet: Sigrid Weigel. Die Literaturwissenschaftlerin hat in einem Gutachten die Kulturpolitik des Auswärtigen Amtes angegriffen, und nun fasste Jörg Häntzschel ihre Thesen in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG zusammen. "Wenn Deutschland mit seiner Auswärtigen Kulturpolitik überzeugen will, dann müsse es zuallererst aufhören, so zu tun, als ließe sich Kulturpolitik als separate Veranstaltung betreiben. ‚Internationale Wirtschafts- und Handelspolitik ist im Effekt Außenkulturpolitik‘ [so Weigl]. […] [Deutschland] müsse außerdem aufhören, als Lehrmeister und Therapeut aufzutreten und stattdessen eingestehen, dass es selbst ebenso viel zu lernen hat wie die anderen Länder. Und, am wichtigsten, es müsse die Prinzipien, für die es sich im Ausland stark mache, selbst leben." Sigrid Weigels Kritik an der auswärtigen Kulturpolitik, paraphrasiert von der SZ.

Journalismus muss Rückgrat zeigen

Derweil ging der Aktionskünstler Philipp Ruch, Gründer des Zentrums für Politische Schönheit, auf die Talkshows im hiesigen Fernsehen los. "Politiker raus! Intellektuelle rein!" forderte Ruch in der WELT. "Ernster Journalismus sollte immer so machtkritisch wie möglich sein. Rückgrat zeigen, keine Stichworte liefern, mit denen Politiker dann glänzen können, sondern sie gegen ihre Ideenlosigkeit mit den Ideen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft konfrontieren – nein, stellen. Der Macht die Wahrheit sagen. Wir haben uns alle viel zu sehr an die Dauerpräsenz von Politikern in den Medien gewöhnt. Es kommt darauf an, diese behagliche Gemütlichkeit aufzubrechen." Der Artikel von Philipp Ruch in der WELT war ein Auszug aus dem Buch "Schluss mit der Geduld" – das viele schlechte Noten erhielt.
"Kitsch und Eskalation", wetterte die Wochenzeitung DIE ZEIT. "Wonach klingt dieses Gebräu? [fragte sich Alexander Cammann] Nach dem Futurismus Marinettis plus Schlingensiefs Subversion ohne dessen Witz, nach dem Barrikadenpathos der Zwanzigerjahre, ohne die Kälte der Sachlichkeit, jedenfalls nach Entscheidung und Unbedingtheit, nicht nach Humanismus, gar Demokratie. […] Aber vielleicht ist das alles ja bloß auch Kunst."

Ein Kniefall vor Petrenko

Apropos Kunst! Groß gefeiert wurde das Antrittskonzert von Kirill Petrenko mit den Berliner Philharmonikern. Petrenko hatte am vorigen Wochenende Beethovens Neunte dirigiert – worüber sich in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG Jan Brachmann restlos verzückt zeigte. Er lobte Petrenko für das "wirkungsvolle Zerreißen harmonischer Wände, um in die Unendlichkeit schauen zu können", und zugleich für die Versöhnung von "Raserei und Kalkül". An Beethoven gefiel Brachmann wiederum, dass er "uns mit dem Unverfügbaren konfrontiert". Der ganze Artikel klang danach, als hätte ihn der FAZ-Kritiker auf Knien geschrieben.
Unterdessen geraten die Kultureinrichtungen zunehmend unter Druck von rechts. Zu diesem Ergebnis kam ein Recherche-Team des ARD-Kulturmagazins "Titel, Thesen, Temperamente" und der SZ. Die in einer doppelseitigen Chronik die Belege präsentierte und etwa unter "August 2017, Kassel" festhielt: "Der AfD-Stadtverordnete Thomas Materner nennt einen in der Stadt aufgestellten Obelisken des Documenta-Künstlers Olu Oguibe ‚ideologisch polarisierende, entstellte Kunst‘ und fordert, dass er nicht von der Stadt angekauft wird. Auf dem Obelisken ist in vier Sprachen der Bibelspruch ‚Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt‘ zu lesen. Materner kündigt an, falls das Kunstwerk nicht entfernt werde, werde die AfD ‚bei jedem von Flüchtlingen begangenen Anschlag‘ zu Demonstrationen vor dem Obelisken aufrufen."
Mal wieder schön sarkastisch: die TAGESZEITUNG. Sie versteigerte zugunsten des Flüchtlingsrats Brandenburg "eine Flasche Sekt, handsigniert von Björn Höcke" – und machte einen schlauen Vorschlag zum weiteren Gebrauch der Flasche. "Verschickt eine Flaschenpost! Für den Fall, dass Höcke die Macht ergreift, empfiehlt es sich, alles, was einem lieb und heilig ist, für kommende Zivilisationen aufzubewahren. Also: Vielleicht ein Gedicht von Brecht, das Grundgesetz oder einen Songtext von Miley Cyrus in die Flasche und ab damit."
Das lassen wir hier so stehen – und folgen nun jener Anweisung, die in der NZZ Überschrift wurde: "Einfach den Mund halten".
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