Aus den Feuilletons

Das Volk entwürdigt sein eigenes Haus

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Die Büste des US-Präsidenten Zachary Taylor ist mit Plastik bedeckt, nachdem Blut darauf verschmiert wurde, als das Kapitol-Gebäude von Trump-Anhängern gestürmt wurde.
Auf die schockierenden Bilder von der Erstürmung des Kapitols nehmen alle Feuilletons Bezug, © AFP / Getty Images / Samuel Corum
Von Ulrike Timm · 07.01.2021
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Alle Feuilletons beschäftigen sich mit dem Sturm auf das Kapitol. Die "SZ" analysiert, dass das Gebäude eigentlich dem Volk gewidmet sei. Der Souverän habe also sein eigenes Zuhause beschmutzt.
"Die Erstürmung des Kapitols war kein Putsch und auch kein terroristischer Akt. Den Angreifern ging es vor allem um Bilder ihrer eigenen Ermächtigung und darum, den Sieg ihres politischen Gegners mit Füßen zu treten", schreibt Jürgen Kaube in der FAZ.
"Die wichtigsten Waffen der Störer waren, trotz der Gewalt, der Sprengsätze und der Rammböcke, die Smartphones, mit denen Selfies geschossen wurden. Es ging darum, anderen zu zeigen, dass man dabei gewesen war."
"Es gab keinen Plan. Nur den Impuls auf den spontanen Kampfruf des Präsidenten", lesen wir in der SZ, und über Donald Trump schreibt Gerhard Matzig: "Er wird in diesen letzten Tagen seiner Amtsführung vom fiktiven Präsidentendarsteller zum kriminellen Führer des Mobs."

Büffelkopfmütze und Kriegsflaggen

Auf die schockierenden Bilder nehmen alle Feuilletons Bezug, auf den halbnackten Mann mit der Büffelkopfmütze, die Kriegsflaggen der Konföderierten oder den Mann, der sich triumphierend im Büro von Nancy Pelosi fläzt, der demokratischen Vorsitzenden des Repräsentantenhauses.
Die SZ widmet sich der spezifischen Architektur des Kapitols, das für demokratische Macht steht und in dem sich das amerikanische Volk widerspiegeln soll. "Auch deshalb sind hier etwas eigenartige Säulenkapitelle in Form von Tabakblättern, Maiskolben und Magnolienblüten zu sehen. Es ging den Erbauern des Kapitols darum, eine nationale Ikonographie zu schaffen, die dem Volk zeigt, dass es der wahre Souverän ist: Das hier ist dein Haus. Der Mann an Nancy Pelosis Schreibtisch hat also nur eines getan – sein eigenes Haus entwürdigt. Damit versagt er sich selbst den Respekt, den er einfordert", lesen wir.
Das hat Gerhard Matzig klug geschlussfolgert, Problem dabei: Es ist dem randalierenden Mann im Pelosi-Büro schlichtweg egal. Auf einen solchen Gedanken käme er nicht, und die intellektuelle Volte bleibt ihm ohnehin verschlossen.

Hauptsache, die Anderen ablehnen

"Bedrohlich ist, dass nach Umfragen ungefähr die Hälfte der Republikaner das rechtsradikale "walk in" mit Leuten in T-Shirts, auf denen 'Auschwitz Camp' steht, und solchen, die sich im Sessel der Parlamentsvorsitzenden breitmachen, in Ordnung finden". Wir sind noch mal zurückkehrt zur FAZ, die die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft beschreibt und dafür die These der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Liliana Mason heranzieht, "es sei für die Wähler der beiden großen amerikanischen Parteien seit langem wichtiger, die andere Seite abzulehnen, als sich dem anzuschließen, was von der eigenen Seite vorgeschlagen wird. Es gibt keine Wechselwähler mehr, und man wählt nicht mehr zwischen liberalen Konservativen und konservativen Demokraten. Es stehen sich vielmehr zwei 'Megaparteien' gegenüber, deren Anhängerschaft jeweils am liebsten mit der anderen aufräumen möchte."
Daran anschließen lässt sich die Sicht von Verena Lueken, ebenfalls in der FAZ. Sie konstatiert nüchtern, dass Joe Biden und Kamala Harris in zwei Wochen ein Land übernehmen, das zur Hälfte nicht von ihnen regiert werden will. Und wenn Biden an Anstand, Ehre und Respekt appelliere und meine, die Bilder, die jetzt über den Nachrichtenticker liefen, "reflektieren nicht, wer wir sind", dann müsse man womöglich endlich begreifen, "dass es eben doch genauso sei".

Kein "Wir" weit und breit

Ähnlich sieht das der TAGESSPIEGEL, Andreas Busche meint: "Die verstörenden Szenen aus dem 'Haus des Volkes' geben einen Vorgeschmack, was passiert, wenn demokratische Gesellschaften in immer fragmentiertere Öffentlichkeiten zerfallen, zwischen denen es keinen Austausch mehr gibt." Man begegnet einander nicht mehr, es fehlt ein Wir, das zusammenhalten könnte und würde.
Kein Platz heute für die schöne Schimpfwörterkanonade in der NZZ – "Kurz geflucht, ist halb gewonnen".
Nein, so einfach ist es heute leider nicht. Traurig.
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