Aus den Feuilletons

Das Schweigen der Mehrheit

04:14 Minuten
Gegendemonstranten in Dresden halten Kerzen.
Die schweigende Mehrheit ist "der Stabilsator der Republik", schreibt Ursula März. © dpa / Robert Michael
Von Hans von Trotha · 09.09.2020
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"Angesichts der Corona-Proteste ist die schweigende Mehrheit nicht Hort reaktionärer Gesinnung, sondern Stabilisator der Republik", schreibt Ursula März in der ZEIT. Gehört werde aber nur die krakeelende Minderheit.
Dass wir den Mund-Nasen-Schutz einmal vermissen werden, hat bisher keiner behauptet. Aber nur bisher. Das ist jetzt auch feuilletonistisch abgehakt. "Am Ende werden wir die Masken gar nicht mehr ablegen wollen", meint Manuel Müller in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG.
"Dieses Tuch ist wie ein Bühnenvorhang: Es verbirgt mindestens die Hälfte der Vorstellung. Das heißt auch, dass wir uns keine Gedanken mehr machen müssen über den Bereich unterhalb unserer Wangen."
Die Vorstellung, dass alle um uns herum irgendwann erst wieder daran erinnert werden müssen, was sich im Bereich unterhalb ihrer Wangen abspielt, lässt einen erschauern.

Keine theologische Deutung zu Corona

Ansonsten droht der Schauer angesichts der Pandemie ja nachzulassen. Weil von den Kirchen nichts kommt. Ja: "Früher war mehr Strafe Gottes", titelt die WELT. Und Karl-Heinz Göttert schreibt:
"Das Schweigen der Kirchen zu Corona ist dröhnend. Beide Konfessionen haben sich bisher eine theologische Deutung der Pandemie weitgehend verkniffen."
Und wo es nichts Aktuelles gibt, schlägt Göttert bei dem nach, was schon länger auf dem theologischen Markt ist. Abraham a Sancta Clara etwa hat im 17. Jahrhundert "die Pest eine Art pädagogische Maßnahme Gottes" gedeutet. "Man sollte einmal hineinschauen in die 400 Seiten", findet Göttert überraschenderweise.
"Dieser Abraham wirkte in Wien. Als dort im Sommer 1679 die Pest ausbrach, wurde er von seinen Oberen für fünf Monate in Quarantäne geschickt. Und dort schrieb er. Sobald der Text gedruckt war, fand er reißenden Absatz."
Der Mann hatte sogar Humor: "In der Herrengasse hat der Tod geherrscht", schrieb er, "in der Klugerstraße ist der Tod nicht klug gewesen, sondern verschwenderisch. In der Bognergasse hat der Tod ziemlich seinen Bogen abgeschossen. In der Singerstraße hat der Tod vielen das Requiem gesungen." Aber so richtig kann uns auch Karl-Heinz Göttert nicht sagen, warum man das heute lesen soll.

Krakeelende Minderheit dominiert die Stimmung

Abraham hat agiert wie ein barocker Blogger: Er hat die Isolation der Quarantäne genutzt, um seine radikalen Meinungen unter die Leute zu bringen. Das funktioniert auch deshalb, weil die Mehrheit in der Isolation verstummt.
Das ist das Thema von Ursula März, die sich in der ZEIT um eine Rehabilitierung der schweigenden Mehrheit bemüht. "Angesichts der Corona-Proteste ist die schweigende Mehrheit nicht Hort reaktionärer Gesinnung", meint sie, "sondern Stabilisator der Republik".
"Sechzig Prozent der Bundesbürger halten die Corona-Maßnahmen für richtig und sinnvoll, etwas mehr als zwanzig Prozent wünschten sie sich sogar noch schärfer. Auf diesen achtzig Prozent ruht nun also die Bewältigung einer historischen Krise. Dennoch ist von ihnen seltsam gedämpft die Rede. Wie von einem Partygast, der anstandshalber eingeladen wurde, obwohl er zur Stimmung nichts beizutragen verspricht. Das besorgt die krakeelende Minderheit."
"Es ist und bleibt das Phantomhafte, was die schweigende Mehrheit suspekt macht", erklärt Ursula März.
"Der ewige Verdacht, der sich gegen sie richtet, steckt in dem Wort 'heimlich'. Die schweigende Mehrheit, lautet er, sei heimlich viel rassistischer / antisemitischer / ökologiefeindlicher oder law and order-freundlicher, als sie zugeben mag. Ob der Verdacht zutrifft oder nicht, nützlich ist er nur einer Fraktion: dem Populismus, der ihn spiegelverkehrt liest und daraus die Berechtigung ableitet, als Bündnispartner der schweigenden Mehrheit aufzutreten."

Dumme Finanzspekulationen per App

Während das Schweigen der Mehrheit, so gesehen, fast nach einer Art gesellschaftlicher Schwarmintelligenz klingt, macht Melanie Mühl in der FAZ in der sogenannten "Gamification" des Aktienhandels einen Fall von "Schwarmdummheit" aus. Sie zitiert eine amerikanische Finanzexpertin mit den Worten, "das Spekulieren per App sei in etwa so, als drücke man einem Zwölfjährigen die Schlüssel für einen Sportwagen in die Hand."
Klingt nicht so richtig optimistisch, eher wie eine neue Strophe für "Das große Lied von der Ausweglosigkeit". Als solches kommentiert Joachim Hentschel in der SÜDDEUTSCHEN die neue, 21. Studioplatte von Deep Purple, die es ganz nach vorn in die Charts geschafft hat. Was Hentschel die Frage stellen lässt: "Ist ihre Musik noch zeitloser, als man immer schon befürchtete?"
Eine Frage, die so plötzlich kommt, dass man sicher länger über sie nachdenken muss als bis zur nächsten Kulturpresseschau.
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