Aus den Feuilletons

Das härteste Weihnachten seit Ende des Krieges?

05:49 Minuten
Weihnachten in Corona-Zeiten.
Maximal fünf bis zehn Menschen - je nach Bundesland - dürfen sich in diesem Jahr unter dem Weihnachtsbaum zusammenfinden. © imago images / Chromorange
Von Tobias Wenzel · 28.11.2020
Audio herunterladen
Die negative Weihnachtsprognose von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet ist für die "FAS" geschichtsvergessen. Die Zeitung erinnert an das Jahr 1961, als die Berliner Mauer gebaut wurde und Familien auf unabsehbare Zeit auseinander riss.
"Eigentlich ist Weihnachten nichts anderes als ein Lockdown", schrieb Ambros Waibel in der TAZ mit Blick auf die dann geschlossenen Geschäfte und die Familien, die sich zuhause verriegeln. Waibel war sich seiner Sache sicher. Ansonsten zeigte sich in den Feuilletons dieser Woche durchaus auch der Mut, Unwissen zuzugeben. "So selten ist es ja nicht, dass man nicht Bescheid weiß", formulierte es Hans-Joachim Müller in der WELT.
Die konkrete Frage: Stammt die Büste der griechischen Blumengöttin Flora im Berliner Bode-Museum von Leonardo da Vinci? Daran gebe es erhebliche Zweifel, verriet Müller, der wiederum auf eine "Arte"-Dokumentation verwies. In dem Wachs der Flora hätten Wissenschaftler nämlich in beachtlicher Menge "Walrat" entdeckt, "eine fett- und wachshaltige Substanz aus der Melone im Kopf von Pottwalen".

Wie kam Leonardo da Vinci an kostbaren Walfischschleim?

Walrat habe man allerdings erst ab dem 18. Jahrhundert "in handelsüblichen Mengen" gewinnen können, also zwei Jahrhunderte nach Leonardo. Zu dessen Zeit sei Walrat noch eine Kostbarkeit gewesen. "Aber ausschließen kann man auch nicht", gab Müller zu bedenken, "dass Leonardo oder seine Werkstatt von irgendeinem Mäzen ein Aliquot des ekligen Formschleims bekommen hat".
Walfischschleim, vielleicht eine hübsche Anregung für diejenigen, die noch nicht wissen, mit welchem Weihnachtsgeschenk sie bei ihren Lieben große Gefühle auslösen können...

Vertrauen und Solidarität

"Ich weiß nicht, ob Frauen tatsächlich anders fühlen, ob sie empathischer sind, rücksichtsvoller, moralisch besser", gibt Ute Frevert im neuen SPIEGEL zu. Allerdings weiß Frevert so einiges über die menschlichen Emotionen, ist sie doch Expertin für die "Geschichte der Gefühle".
Für die Historikerin sind die Gefühle dieses Jahres "Vertrauen und Solidarität". Dass der Bundespräsident "eine Volkstrauer für die Pandemieopfer" ohne große Resonanz vorgeschlagen hat, erklärt Ute Frevert so:
"Es ist ja auch keine nationale Katastrophe wie in den Weltkriegen, in denen die Soldaten 'fürs Vaterland' gefallen sind und entsprechend kollektiv betrauert wurden. Jeder stirbt für sich allein. Man kann ein Virus nicht moralisch verurteilen und seine Opfer nicht moralisch überhöhen. Deshalb bleibt die Trauer notwendig individuell und leise."

Dekolonialisierung der Altertumswissenschaft

Stefan Rebenich trauerte in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG um sein Fach: die Altertumswissenschaft. Genauer: um die Dekolonialisierung des Fachs in den USA. Rebenich ist durchaus für eine kritische historische Auseinandersetzung mit dem eigenen Fach und den dort ausgeübten Diskriminierungen. Allerdings beobachte er in den USA einen Kreuzzug gegen weiße Gelehrte. Und dieser Kreuzzug werde von dem Wissenschaftler Dan-el Padilla Peralta angeführt. Rebenich zitierte ihn wie folgt:
"Jede farbige Person, die künftig publiziert wird, nimmt dann einem weißen Mann den Platz weg, dessen Worte in dieser Zeitschrift hätten erscheinen können oder schon erschienen sind. Und das wäre eine Zukunft, nach der man streben sollte."
Rebenichs Kommentar: "Nicht mehr das Double-blind-Peer-Review-Verfahren, die Prüfung durch anonyme Gutachter, denen die Identität des Verfassers unbekannt ist, entscheidet in dieser neuen Welt über wissenschaftliche Publikationen, sondern die Hautfarbe. Man darf und muss wohl von einem inversen Rassismus sprechen, der Teil einer politischen Agenda ist, die mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit daherkommt, tatsächlich aber totalitär ist."

Wenn historische Vergleiche schiefgehen

Vom Nicht-wissen-Wollen zum Fälschlich-zu-wissen-Glauben: "Helfen mehr Geschichtsbücher gegen die schiefen historischen Analogien im Corona-Diskurs?", fragt Tobias Rüther in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG, erwähnt Armin Laschets Aussage, es stehe der Bundesrepublik Deutschland "wohl das härteste Weihnachten" bevor, "das die Nachkriegsgenerationen je erlebt" hätten. "Also: Härter als das von 1961, als der Bau der Berliner Mauer Familien auf unabsehbare Zeit voneinander trennte", folgert Rüther entlarvend.
Und erwähnt auch, dass sich die Kasseler Studentin Jana bei einer Demonstration der selbsternannten "Querdenker" mit Sophie Scholl, der von den Nazis enthaupteten Widerstandskämpferin, verglichen hat, weil auch sie demonstriere und Flyer verteile. "Der Verdacht drängt sich auf, dass man auch hier mit noch mehr Geschichtsbüchern nicht weiterkommt", schreibt Tobias Rüther über Jana. "Woran es ihr mangelt", vermutet der Journalist, "ist wohl eher eine 'ethisch fundierte Einordnung' der eigenen Rolle in der Gegenwart des Jahres 2020. Und der Tragweite der Zumutungen, die Corona mit sich bringt."

Keiner verliert gern

Verlieren ist nicht nur eine Zumutung für Donald Trump, sondern war auch eine für Jochen Schmidt, verrät er ebenfalls in der FAS. Früher beim Spielen mit seinem Bruder habe keiner von beiden eine Niederlage eingestehen wollen:
"Wenn ich als Kind ein Team von Rechtsanwälten gehabt hätte, hätte ich jede Niederlage, ob bei 'Mau-Mau' oder bei 'Cluedo', so lange angefochten, bis mein Bruder nachgegeben hätte. Zur Not hätte ich behauptet, dass Fidel Castro mittels morphogenetischer Felder die Karten gezinkt habe."
Mehr zum Thema