Aus den Feuilletons

Das gleichberechtigte Huhn

04:21 Minuten
Eine freilaufenden Legehenne blickt in die Kamera.
Ein Huhn kann Eier legen, gegessen werden - oder auf Abenteuerreise gehen. © Fritz Rupenkamp / countrypixel / imago-images
Von Hans von Trotha · 06.07.2020
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Die "FAZ" und die "taz" beschäftigen sich beide mit der Fleischindustrie. Die "FAZ" weiß von den Paradoxien unseres Fleischkonsums zu berichten, während die "taz" zwei Hühnerschicksale vergleicht.
"Wir haben unser Gesicht verloren", stellt Bernd Graff in der SÜDDEUTSCHEN fest. "Wortwörtlich."
Und zwar "an ein Unternehmen mit Namen: Clearview AI. Im Februar war bekannt geworden, dass die Tech-Firma heimlich eine weltweite Datenbank aus drei Milliarden Gesichtern aufgebaut hat, um damit eine Personensuchmaschine zu füttern. Die mithilfe eines automatisierten Prozesses gesammelten Bilder stammen von allen großen Social-Media-Seiten. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass fast alle im Netz auffindbaren Menschenporträts von Clearview AI geerntet und in die firmeneigenen Datensilos verbracht wurden."

Wie man eine illegale Praxis rechtfertigt

"Illegal natürlich", schreibt Bernd Graff weiter. Und doch: "Clearviews Geschäftsführung berichtet stolz, dass alles in allem 600 staatliche Institutionen, nicht nur aus den USA, ihre Dienste schon in Anspruch genommen hätten. Und man habe schon Fälle von Kinderpornografie lösen können. So steht es auf der Firmenwebseite. Nun kann man sagen, dass Kinderpornografie und Gewalt gegen Minderjährige so schlimm sind, dass zur Verhinderung und Aufklärung dieser Verbrechen jedes Mittel recht ist. Man kann aber auch feststellen, dass noch die schlimmsten Mittel von skrupellosen Firmen damit gerechtfertigt werden, dass man sie zu Instrumenten im Kampf gegen Kinderpornografie erklärt."
Danke dafür, Bernd Graff, und auch für den Hinweis auf James Dean. Der, das war auch schon Gegenstand dieser Kulturpresseschau, spielt derzeit in einem Film über den Vietnamkrieg mit - James Deans erste Rolle nach seinem Tod vor mehr als 60 Jahren. Möglich macht das die Technologie des "Face-Swapping":
"Damit kann man in Echtzeit ein beliebiges Gesicht auf einen beliebigen Körper setzen", erklärt Bernd Graff und resümiert: "Man darf nie vergessen, dass ein Algorithmus immer gleich zwei Fehler macht, wenn er jemanden irrtümlich auf einem Bild erkennt. Wenn er behauptet, eine Person sei an diesem Ort, dann ist sie demnach nicht an einem anderen. Und: Die erkannte Person ist nur diese, sie kann keine andere sein."
Man braucht schon Chuzpe, so viel Naivität vorzutäuschen, damit sich die illegal gesammelten Daten optimal vermarkten lassen.

Ein System, das Empathie blockiert

Optimal vermarkten - damit wären wir bei Tönnies. Also nicht bei Clemens Tönnies als Person, das hat irgendwie nicht so richtig hingehauen, aber beim Fleisch. "Die Grillsaison erreicht ihren Höhepunkt", beobachtet Melanie Mühl in der FAZ. "Der Ekel vor den Bildern aus der Fleischindustrie aber auch."
Mühl geht diesen Widerspruch psychologisch an: "Die amerikanische Psychologin Melanie Joy, die seit Jahren die Paradoxien des Fleischkonsums erforscht, spricht vom Karnismus, einem System aus Überzeugungen, das darauf abzielt, unser Bewusstsein und unsere Empathie zu blockieren. Auf dem Teller liegt das dumme Nutztier, auf der Couch kuschelt das zur Familie gehörende intelligente Haustier."
Und wozu gehört das Huhn? Das klärt Helmut Höge dankenswerterweise in der TAZ - Überschrift "Huhn oder nicht Huhn". Auch das geht offenbar nur psychologisch: "Die Hühnerforschung", so Höge, "dringt immer mehr in die Persönlichkeit des Huhns".
Die Details zu den "Chicken Gulags" erspare ich Ihnen einfach mal und bleibe bei der Psychologie.

Auch Hühner haben eine Persönlichkeit

"Verhaltensforscher haben inzwischen herausgefunden", zitiert Höge eine Fernseh-Dokumentation, "dass das Kommunikationsverhalten von Hühnern komplexer ist als man gemeinhin denkt". Höges Fazit: "Als Faustregel gilt: Je komplexer die menschliche Wahrnehmung, desto komplexer das Huhn. Und umgekehrt: Je ökonomischer die Wahrnehmung, desto dümmer das Huhn."
Es folgt die Gegenüberstellung von "Lotte", einem freilaufenden Legehuhn, das man aufgrund des Zahlencodes auf einem Bio-Ei identifizieren können soll (was voll daneben geht) - und "Monique, deren Geschichte der junge bretonische Segler Guirec Soudée in seinem Buch 'Seefahrt mit Huhn' erzählt: Er nahm sie wegen der Eier mit an Bord und sie begleitete ihn in die Arktis, wo er im Eis überwinterte, sie legte wirklich oft ein Ei, wurde dafür aber auch zunehmend von ihm als quasi gleichberechtigt wahrgenommen. Kurz vor Grönland nähte er ihr einen Anorak, nachts schlief sie unter Deck. Wenn er etwas Gutes gekocht hatte, teilte er das Essen mit ihr."
"Tiere essen" heißt ein einflussreiches Buch von Jonathan Safran Froer, das Melanie Mühl in der FAZ zitiert. "Mit Tieren essen" klingt doch nach einer würdigen Alternative. Au ja: Man sollte Clemens Tönnies dazu verurteilen, sein Essen ein Jahr lang mit den Tieren zu teilen, die er derzeit auf deutsche Grills werfen lässt. Das wär's.
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