Aus den Feuilletons

Das Abc der digitalen Schreckensherrschaft

Notizzettel auf Laptop-Tastatur: "I hate you" - Ich hasse dich -, daneben ist ein Totenkopf gezeichnet
Ironie? Funktioniert digital viel schlechter als in der analogen Welt, meint Christian Geyer in der "FAZ". © imago/allOver
Von Tobias Wenzel · 15.07.2018
Die "FAZ" versucht eine Dialektik der Freiheit im Netz, die im Tribunal endet. Die "SZ" lässt den Kapitän der "Iuventa" zu Wort kommen, der von den Geschehnissen an Bord des Rettungsschiffs erzählt, und die "taz" erinnert an die italienischen Magliari.
"Man entkommt dem Tribunal, indem man es wird." Der Philosoph Odo Marquard hat das geschrieben, und zwar, wie Christian Geyer in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN betont, lange vor der Zeit der digitalen Medien. Dabei lässt sich der Satz so gut auf Twitter und Co. anwenden. "Das Prinzip von Folgen und Gefolgtwerden ist jenes der Nestwärme: Schlüpf ich bei dir unter, schlüpfst du bei mir unter. Man kuschelt sich zusammen", schreibt Geyer. Klingt noch relativ harmlos. Noch. "Um die Anerkennung, auf die man aus ist, digital handhabbar zu machen, wird die Welt auf den binären Code von Pro und Contra gebracht", führt Geyer aus.
"Von hier aus lässt sich das jakobinische Abc einer digitalen Schreckensherrschaft ausbuchstabieren. Begriffe wie Menschenwürde oder Staatsversagen, aber auch Moral, Humanität oder Weltoffenheit, die in der analogen Welt nicht für sich selbst sprechen, sondern in ihrer konkreten Geltung von politischer und rechtlicher Deutung abhängen, gewinnen in digitaler Dynamik eine unbedingte Eindeutigkeit." Bei Eindeutigkeit bleibt auch die Ironie auf der Strecke.

Manipulative Tweets

Geyer erinnert an den "manipulativen Tweet eines 'Bild'-Reporters", der einen ironischen Zwischenruf von Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth ironiefrei twitterte: "Roth war von Alexander Dobrindt polemisch gefragt worden, wie viele von den '70 Millionen' Flüchtlingen sie als Grüne denn aufnehmen wolle, und Roth hatte sarkastisch zurückgegeben: 'Alle, Herr Dobrindt!'. Rechte Portale, durch den Tweet aufmerksam geworden, griffen die Aussage skandalisierend auf, sendeten den Screenshot weiter, und Dobrindt ließ es sich nicht nehmen, Tage später im Parlament auf groteske Weise wieder darauf zurückzukommen: 'Sie wollen alle Flüchtlinge aufnehmen, die auf der Welt unterwegs sind!'" Und der Leser denkt: Ah ja! Dobrindt entkommt dem Tribunal, indem er es wird.
Sie sehen das Schiff "Iuventa" der Nichtregierungsorganisation Iuventa Jugend rettet (undatierte Aufnahme).
Das private deutsche Rettungsschiff "Iuventa"© dpa-Bildfunk / IUVENTA Jugend Rettet e.V.
Benedikt Funke redet nicht nur über Flüchtlinge. Er hat auch tausenden von ihnen das Leben gerettet. Als Kapitän des privaten Schiffs "Iuventa". Bis es im letzten Sommer von den italienischen Behörden beschlagnahmt wurde. Über das Rettungsschiff, die Besatzung und die Flüchtlinge ist gerade der Dokumentarfilm "Iuventa" in deutschen Kinos zu sehen.

"Ätzende Mischung aus Salzwasser und Benzin"

Im Gespräch mit Philipp Bovermann von der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG erinnert sich der Kapitän:
"Manche der Geretteten konnten nicht mehr gehen. Sie hatten auf den völlig überfüllten Booten gekauert, konnten sich aber kein bisschen bewegen und bekamen dadurch Nervenschäden in den Beinen. Das ist im Film drin. Man sieht dort allerdings nicht, dass sie teilweise auch in die Boote urinieren und sich übergeben mussten. Oft schwamm da eine ätzende Mischung aus Salzwasser und Benzin und hat den Leuten die Haut verätzt. Wir haben Michele, dem Regisseur des Films, gesagt, dass wir solche drastischen Bilder nicht wollen, die das Leid und die Not ausstellen. Mittlerweile bin ich persönlich der Ansicht, wir müssen das erzählen. Denn offenbar glauben immer mehr Menschen, wenn da Afrikaner auf den Booten sitzen, dann seien das alles 'Asyltouristen'."

Magliari: moderne Pendler zwischen den Welten

Der italienische Soziologe Marcello Anselmo versucht in der TAZ, den Deutschen die Angst vor den Flüchtlingen zu nehmen. Allerdings augenzwinkernd, was Dobrindt und Co. sicher unterschlagen. Anselmo erinnert an italienische Migranten, die sogenannten Magliari.
Blick auf ein Wohnhaus im Rione Luzzatti in Neapel (Italien), aufgenommen am 23.11.2017. 
In so einem Wohnhaus im Rione Luzzatti in Neapel könnten sie gelebt haben, die sog. Magliari.© dpa / Lena Klimkeit
Die meist aus Neapel stammenden Männer handelten in den 50er bis 70er-Jahren in Westdeutschland mit "minderwertigen Textilien und Stoffen": "Der Magliaro bietet ein Schauspiel, in dem er, perfekt gekleidet und mit den Attributen einer vergangenen männlichen Eleganz wie Krawattennadeln und seidenen Einstecktüchern versehen, sozusagen selbst, durch seinen nach außen gespiegelten Erfolg, für sein unschlagbares, nur jetzt in diesem Moment verfügbares Angebot einsteht."
Der Soziologe hat diese geschickten Gauner interviewt und lieb gewonnen: "Mit ihrer unternehmerischen Tätigkeit wurden die erfolgreichsten Magliari zu modernen Pendlern zwischen den Welten, manche gründeten gleichzeitig Familien in Deutschland und in Süditalien."
Mehr zum Thema