Aus den Feuilletons

Corona-Risiken sind ungleich verteilt

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Eine Kassiererin mit Mund-Nasen-Schutz und Gummihandschuhen arbeitet in einer Filiale von Aldi Süd.
Je nach Beruf seien die Menschen ungleich stark beim Risiko einer Corona-Infektion ausgesetzt, sagt der Sozialwissenschaftler Oliver Nachtwey in der "SZ" © picture alliance/dpa | Rolf Vennenbernd
Von Gregor Sander · 09.03.2021
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Über die Sozialstruktur der Coronapandemie werde viel zu wenig geredet, meint der Sozialwissenschaftler Oliver Nachtwey in der SZ. Die Verkäuferin im Supermarkt sei einem größeren Risiko ausgesetzt als ein Angestellter im Homeoffice.
In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG stellt sich Alex Rühle eine ganz einfache Frage:
"Corona trifft Arme härter als Reiche. Es gibt aber in Deutschland keine Statistiken dazu. Warum eigentlich?"
Gesprächspartner Oliver Nachtwey, Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel, betont erst einmal:
"Es gibt in Deutschland ausgezeichnete soziologische Forschungen zu den Folgen der Pandemie. Aber auf staatlicher Seite weiß und kommuniziert man viel zu wenig über die Sozialstruktur der Infektionen. Schließlich müsste man dann ja zugeben, dass Deutschland eine Klassengesellschaft ist und Menschen aus der Unterklasse ein höheres Infektionsrisiko haben."
Das Argument, dass das Virus alle gleich treffe, bringt den Wissenschaftler erst recht in Rage:
"Nein, wir sitzen nicht im selben Boot. Der Angestellte kann ins Homeoffice gehen, die Verkäuferin muss im vollen Laden stehen, mein Essen wurde mir gerade vom migrantischen Uberfahrer gebracht. Die Risiken sind dramatisch ungleich verteilt. Die unteren Klassen haben sehr große Einkommens- und Gesundheitsrisiken."

Die eigene Sprache reflektieren

In der TAZ hingegen sagt die Autorin Birgit Theißl dem Begriff "Unterschicht" den Kampf an. Ihr ist es wichtig, "stets die eigene Sprache zu reflektieren und solche Begriffe wie 'sozial Schwache' oder 'Unterschicht' endgültig zu streichen." Das wiederum erklärt sie über den Begriff Klassismus, den sie im Interview mit Timo Stukenberg so definiert:
"Das bedeutet, dass Menschen, die von Klassismus betroffen sind, von materiellen Ressourcen ausgeschlossen sind, aber auch von politischer Partizipation. Dass sie abgewertet und ausgegrenzt werden."
Und sie kommen in der journalistischen Berichterstattung in Deutschland zu wenig vor:
"Armutsberichterstattung ist oft problematisch, wenn Journalist* innen mit einem Blick von außen in ein gerne genanntes Problemviertel fahren und eine armutsbetroffene Familie vielleicht sogar voyeuristisch ausstellen. Die Betroffenen könnten sehr viel über Armut, über Diskriminierung, über Probleme mit Ämtern erzählen, aber sie sollen nur erzählen, wann das Geld nicht gereicht hat, was sie gegessen haben und wie klein das Kinderzimmer ist", so Birgit Theißl in der TAZ.

Machtmissbrauch bei der BILD-Zeitung

Im Berliner TAGESSPIEGEL sorgt sich Joachim Huber um die Zukunft von BILD-Chefredakteur Julian Reichelt, der sich im eigen Haus einem Compliance-Verfahren stellen muss:
"Die Vorwürfe sind gewichtig. Mehrere sind es, die über die vergangenen Jahre zusammengekommen sind. Ein halbes Dutzend Mitarbeiterinnen haben dem Medienkonzern Machtmissbrauch, die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen berichtet, von Nötigung und Mobbing ist die Rede."
Der Springer-Verlag will diese Vorwürfe nun untersuchen und für den TAGESSPIEGEL-Redakteur gibt es da nur eine Vorgehensweise:
"Wer permanent Attacken auf andere fährt, die fortgesetzte Polarisierung zum Geschäftsmodell erhoben hat, der darf sich nicht wie ein Unschuldslamm gerieren. Wenn der Boulevard rechthaberisch röhrt, kann nur eigene Unfehlbarkeit das Fundament für solches Selbstverständnis sein. Sonst wirds heuchlerisch."

Ein Canyon zwischen Sprache und Wirklichkeit

Auch wenn das schon wie ein Schlusssatz klingt, soll es das hier noch nicht gewesen seien. Für das Ende böte sich auch ein Satz aus einer Literaturkritik von Maike Albath in der SZ an: "In Hernan Diaz' naturschwerem Western 'In der Ferne' klafft der größte Canyon zwischen der Sprache und der Wirklichkeit."
Zu diesem Bild fehlt nun nur noch ein gutes Getränk und das mixt uns Jenni Zylka in der TAZ. Eigentlich als wärmender Schluck für einen dieser unzähligen Coronaspaziergänge gedacht, lässt sich damit aber sicher auch auf den Canyon zwischen Sprache und Wirklichkeit anstoßen. Also bitte, Frau Zylka:
"Ein etwa im Verhältnis 7:1 angemischtes Gebräu aus griechischem Bergtee mit Majoran-Likör, den ich vor einiger Zeit bei einem Besuch in der 'Majoranstadt Aschersleben' aus Mitleid für diesen Namenszusatz gekauft und seitdem ignoriert hatte."
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