Aus den Feuilletons

Cancel Culture und "Kanzelkultur"

04:08 Minuten
Wegweiser zeigen die Optionen Meinungsfreiheit und Ausgrenzung.
Was liegt in unseren aktuellen Debatten näher: Meinungsfreiheit oder Ausgrenzung? © Imago / U. J. Alexander
Von Hans von Trotha · 10.05.2021
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Menschen wegen bestimmter Überzeugungen ausschließen - das nennt man Cancel Culture. Die "FAZ" fügt eine "Kanzelkultur" hinzu: Der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz hat das Buch "Papierklavier" als nicht preiswürdig abgekanzelt.
"Infrastruktur", erinnert der Politologe Jan-Werner Müller in der WELT, "heißt grundsätzlich: andere erreichen und von ihnen erreicht werden können. "Eigentlich", meint er, "wären die sozialen Medien eine wichtige Erweiterung der Infrastruktur der Demokratie – sie ermöglichen schlicht mehr an Relationen. Die Furcht, sie reduzierten systematisch Pluralismus, gründet auf der Vorstellung, hilflose Menschen würden hier in Filterblasen gefangen und in Echokammern eingesperrt."
"Neuere Forschungen zeigen" nach Müller, "dass die These von den Echokammern selbst in einer Art wissenschaftlichen Echokammer immer wieder bestätigt wurde – aber empirisch nicht wirklich plausibel ist. Wer einmal darüber nachdenkt, wird auch recht schnell zu dem Schluss kommen, dass wir uns in unserem Offline-Leben in recht homogenen Gruppen bewegen – im Netz aber ständig auch ganz andere Perspektiven mitkriegen, oftmals zum eigenen Ärger."

Katholischer Kinderbuchpreis abgekanzelt

Andere Perspektiven sind nicht immer erwünscht. Aus diesem Gestus ist ein eigener Bereich der Kultur erwachsen, den sie Cancel Culture nennen. Ihr fügt Tilman Spreckelsen in der FAZ als Unterkategorie nun eine "Kanzelkultur" hinzu.
Der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz mochte die Entscheidung der Jury des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises für Elisabeth Steinkellners* Buch "Papierklavier" nicht bestätigen – abgekanzelt, und raus. Jetzt müssen die Kinder- und Jugendbücher ohne katholischen Preis auskommen. Das mag schade sein, für die katholischen Bischöfe vielleicht noch mehr als für die deutschen Kinder und Jugendlichen, wird sich aber schnell versenden.
In Indien ist das Spannungsverhältnis zwischen Kulturbetrieb und regulierenden Behörden dramatischer. David Pfeifer berichtet in der SÜDDEUTSCHEN, dass "indische Tugendwächter" Streaming-Anbieter wie Netflix verklagen. Und das, obwohl sogar extra Triggerwarnungen gesendet werden wie: "'Wir respektieren alle Glaubensrichtungen, Religionen, Gefühle und Empfindungen jeder Person, Gemeinschaft, Religion, Gesellschaft und ihrer Kultur, Bräuche, Praktiken und Tradition'."
Trotzdem wird zwei Netflix-Verantwortlichen in Indien der Prozess gemacht, "weil man versucht habe, 'bewusst religiöse Gefühle zu verletzen'". So etwas Ähnliches muss dem Ständigen Rat der Deutschen Bischofskonferenz ja irgendwie auch durch den Kopf gegangen sein.

Gewisse Themen werden umschifft

Im TAGESSPIEGEL-Interview sagt Karin Baier, die Intendantin des Hamburger Schauspielhauses, anlässlich des Berliner Theatertreffens für ihre Sparte: "Es gibt im Moment eine extrem ungute Entwicklung, die dazu führt, dass man Selbstzensur übt. Und das finde ich für einen Theaterbetrieb, der immer so stolz darauf war, widersprüchlich zu sein, hochproblematisch." Sie merkt, sagt sie, "in Gesprächen mit der Dramaturgie zunehmend, dass wir gewisse Themen umschiffen" und sie denke: "Das kann nicht sein!"
In der TAZ bemerkt Jenni Zylka anlässlich des neuen Albums von Van Morrison, dass auch die Pop-Texte ihre vermeintliche Unschuld verloren haben, und zwar ganz aktuell: "Die Pandemie und ihre Maßnahmen werden je nach Gesundheit, finanzieller Sicherheit, persönlicher Resilienz und Erfahrung unterschiedlich empfunden."
Früher, meint sie, habe gegolten: "Das lyrische 'Ich' singt für ein lyrisches 'Du', vor allem das selige 'Wir' symbolisiert die ganze romantische Palette des gemeinen Drei-Minuten-Lovesongs. Doch nun geht es nicht mehr um 'uns', sondern um 'die'." Jenni Zylka zitiert von der Van-Morrison Platte: "They own the media / They control the stories that are told / They control the narrative / Keep on telling you lies"

Mehr kulturgeschmacklicher Individualismus statt Massenkultur

"Mit der politischen Unschuld, die Massenkultur in ihrer Funktion als inkludierendes, soziales Ereignis hatte, das auf einer humanistischen Ebene den Zusammenhalt stärkte", werde es, meint sie, "vorbei sein". Unter anderem, "weil die Geschichten und Texte von Pandemieerfahrungen geprägt sein werden. Vor allem jedoch durch die Spaltung."
Am Ende formuliert sie eine Hoffnung – und setzt dabei auf das stärkste Gegengewicht zu allem Canceln, Kanzeln und Umschiffen: eine "Stärkung des kulturgeschmacklichen Individualismus", eine "Abkehr vom Mainstream. Schließlich", erinnert sie, "hieß das 1959 erschienene vierte Elvis Presley-Compilation-Album: '50.000.000 Elvis Fans Can’t Be Wrong'", um hinzuzufügen: "Und das stimmte schon damals nicht."
*Redaktioneller Hinweis: Im Audio wurde eine falsche Namenszuordnung korrigiert.
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