Beim "Bart der Freiheit"

Die Feuilletons jubeln über den Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest. "Wurst ist überall" – so die "Welt". Außerdem hat das Wort "irre" gerade Hochkonjunktur.
Probleme der geistigen Gesundheit beherrschen die Feuilletons am Wochenanfang. Es ist, als habe die Auflösung bisher gültiger Maßstäbe zu einer Verwirrung geführt, die sich nur noch mit Begriffen der volkstümlichen Psychodiagnostik fassen lässt. Die FRANKFURTER ALLGEMEINE hatte den Mut, eine Reporterin zu einem Leseabend des Bestsellerautors Akif Pirincci zu schicken, der mit lautem Kulturhass nach Aufmerksamkeit jagt. "Ob denn der konservative Onkel noch käme", fragte ein Zuhörer seinen Begleiter. "Nein, der ist schon tot", kam die Antwort.
Vor dieser aufgeweckten Zuhörerschaft las der Autor über den deutschen Intellektuellen, welcher "von Natur aus dumm" sei und ein "Wiederkäuer völlig irrer Botschaften von linken Arschlöchern" – da ist es, dieses Wort "irre". Folglich ist es kein Wunder, dass der Intellektuelle sich nicht daran stören würde
"wenn der Intendant des Gorki-Theaters ein schwuler Zwergpinguin mit Tourette-Syndron im Rollstuhl wäre."
Da wird der subtile Herr Pirincci seine helle Wut gehabt haben, als die bärtige Mannfrau oder Fraumann Conchita Wurst den Eurovision Song Contest gewann, was in seinen Augen ja wohl auch irgendwie "Arschloch" oder "irre" oder zumindest "links" sein dürfte. Die linke WELT jedenfalls erfreut sich daran, dass Conchitas Sieg dem homophoben und antimodernen Präsidenten Putin schön eins mitgegeben hat und kräuselt Conchitas Gesichtsbehaarung zum "Bart der Freiheit" hoch.
"Wo an der Grenze zu Russland die Separatisten ihre Fahnen und Kalaschnikows schwenken, ... hatte dieser Gesangswettbewerb ... eine hochpolitische Note, denn in der Tat führt der russische Präsident wie viele Autokraten dieser Welt auch einen Kulturkampf gegen die Moderne."
Natürlich wird er ihn verlieren, denn: "Wurst ist überall" – so die WELT.
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG hatte offenbar ebenfalls Befürchtungen wegen strunzkonservativer Osteuropäer und registrierte erleichtert,
"dass Toleranz, Humor und ein glühendes Herz inzwischen offenbar quer über den Kontinent begehrt sind."
Die FAZ rezensiert Ibsens "Nora" in der Regie von Michael Thalheimer und es stellt sich heraus - ihr geht es auch nicht gut: "Nora oder Ein Deppenheim" lautet die Überschrift. Der Rezensent nennt Nora "total meschugge", aber verglichen mit den anderen Figuren sei sie "ein Ausbund an Vernunft", was Schlimmes befürchten lässt. Noras Gatte hat einen "Super-Hau im Hirn", der Erpresser Krogstad ist ein "Geisteskranker", das Ganze die "Schandtat der Saison". Die Inszenierung scheint also so doll nicht zu sein, aber der Verriss ist ein Vergnügen.
Das millionenschwere Erbe des Cornelius Gurlitt beschäftigt die Fachwelt – jetzt vor allem die Juristen. Die Frage lautet, ob der schwer herzkranke Sammler geistig überhaupt gesund genug war, um ein Testament zu verfassen.
"Darüber" – schreibt die FAZ – "ob sich der testierende Notar durch ein medizinisches Gutachten absicherte, gibt es zurzeit keine Informationen."
Wenn also Verwandte von Gurlitt das bisherige Testament zugunsten des Kunstmuseums Bern etwa wegen nachlassender geistiger Gesundheit anfechten sollten, hätte dies jahrelange Rechtsstreitigkeiten zur Folge – mit Verzögerungen auch für die Restitution eventuell geraubten Kunstgutes:
"Diese Perspektive" – so die FAZ – "ist den NS-Opfern und ihren Nachfahren nicht zuzumuten."
Es gibt einen neuen "Spreewaldkrimi", der am Montagabend im ZDF ausgestrahlt wird – wer immer darüber schreibt, schwelgt in höchsten Tönen der Begeisterung. "Lodernder Wahnsinn" titelt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG und meint damit die Psyche der Hauptfigur, und dann noch: "irre gut", und meint damit den gesamten Film. Allmählich sehnt man sich nach ein wenig geistiger Normalität.