Aus den Feuilletons

Angst vor irrelevantem Gebastel

Eine Frau geht am 07.04.2017 in Athen (Griechenland) an einem Werbeplakat für die documenta 14 vorbei. Die internationale Kunstausstellung documenta 14 wird erstmals vom 08. April bis 16. Juli 2017 zunächst in Athen und vom 10. Juni bis zum 17. September 2017 in Kassel zu sehen sein.
Die Besucher sehen doppelt: Zum ersten Mal findet die documenta auch in Athen statt - jeder Künstler, jede Künstlerin war angehalten, ihr Kunstwerk zweifach herzustellen. © dpa / picture alliance / Angelos Tzortzinis
Von Ulrike Timm  · 08.04.2017
Die documenta in Athen hat begonnen. Die eingeladenen Künstler haben jedes ihrer Kunstwerke zwei Mal hergestellt: ein Mal für Athen, ein Mal für Kassel. Muss man nun überhaupt an beide Orte reisen, fragt die NZZ. Und die FAZ fürchtet ein Abgleiten der Kunstschau in "irrelevantes Gebastel".
"Die Kunst sucht eine bessere Welt" – der TAGESSPIEGEL.
"Die documenta erprobt das Scheitern" – Neue Zürcher Zeitung.
"Die Errettung der Welt durch die Kunst" die TAZ, und die meint es gar nicht freundlich, scheint ihr doch die documenta von Athen viel zu politpädagogisch-plakativ geraten.
"Sommeranfang" titelt ziemlich neutral die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG und verweist darauf, dass die documenta von Athen einen ganzen Ausstellungsreigen eröffnet, der sich "mit den Realitäten der Gegenwart messen muss".
Die Eröffnung der documenta ist das bestimmende Thema in den Feuilletons, die Eröffnung des ersten Teils, um genau zu sein, man startet ja in Athen diesmal,– erst im Juni kommt die documenta nach Kassel, an ihren gewohnten Ort.
"Die geladenen Kunstschaffenden fabrizieren je ein Werk für beide Standorte. Womit sich natürlich die Frage stellt, ob man denn überhaupt an beide Schauplätze reisen muss, um die 14. Ausgabe der documenta gesehen zu haben", fragt, irgendwie sehr schweizerisch um Effizienz bemüht, die NEUE ZÜRCHER. Und muss man nach Athen und nach Kassel? "Der Kurator selber findet dies nicht zwingend und meint lapidar, wenn man ein Auge zuhält, könne man ja immer noch alles sehen, aber mit zwei Augen habe es noch eine andere Dimension…"

Ins Magnetfeld der Gegenwartskrisen

Sinn und Unsinn einer documenta-Dopplung sind vielfach diskutiert worden und natürlich nehmen die Feuilletons diesen Faden sämtlich wieder auf, bevor sie – sehr unterschiedlich – gucken und dementsprechend ein und dieselbe Schau sehr unterschiedlich sehen. Sich im schwer gebeutelten Griechenland nach einer Infusion Dringlichkeit umschauen, um nicht im "irrelevanten Gebastel zu enden? Tatsächlich ist die Verschiebung der documenta nach Süden ein Experiment, das zeigen soll, was passiert, wenn man die Kunst direkt ins Magnetfeld der Gegenwartskrisen, auf den Schauplatz von Demokratie-, Finanz und Flüchtlingskrise schiebt", lesen wir in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN.
Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis sprach vom "Krisentourismus" der Kunstwelt, tauchte aber zur Eröffnung doch auf, und dann: "Kein böses Wort mehr über die documenta. Stattdessen zitierte er in einem atemberaubenden Tempo Kant, Sophokles, Hannah Arendt und Shakespeare, sprang auf sein Motorrad und verschwand röhrend in der lauwarmen Nacht", beobachtet die FAZ. Vom aufgepfropften theoretischen Politüberbau ist schon allerhand zu sehen, wohl auch kaum vermeidbar, wenn Kunst den Puls des Zeitgeistes fühlen will, inszenierte Migration – "ein Long Distance Reiter Verein" macht sich auf den Weg von Athen nach Kassel, ein Müllhaufen portraitiert die Probleme von Athen, und "auf langen Texttafeln" wird die israelische Politik gegenüber den Palästinensern angeprangert, einseitige Propaganda, ärgert sich die TAZ, die überhaupt einen sehr kritischen Ton für die documenta findet.

Wanderschuhe schaden nicht

Ähnlich urteilt die WELT, während sich SÜDDEUTSCHE und FAZ auch gerne faszinieren lassen und einzelne Höhepunkte finden in der uferlosen Schau. Eindrucksvoll findet die SÜDDEUTSCHE etwa die archaischen Masken, die zu den Riten eines Indianerstammes gehören, die Masken werden nämlich erst bewundert und dann verbrannt – Kunst auf Zeit, die sich allem Musealen per se entzieht…
Besucher der Athener documenta sollten übrigens Wanderschuhe anziehen! Die Kunst überzieht die Stadt, der Parcours allein zu den Hauptorten umfasst schon mal schlappe 16 Kilometer…
Und Kassel? Raucht und dampft. Der weiße Rauch, "der künstliche Qualm ist Teil eines Kunstwerks von Daniel Knorr und weist darauf hin, dass die documenta begonnen hat", auch wenn in Kassel außer Qualm eben derzeit noch nichts zu sehen ist, erst am 10. Juni geht es hier weiter. Und falls Sie hingehen möchten, um zu erleben, was die Gegenwartskunst treibt: Wanderschuhe können auch da nicht schaden. Athen mag zig-mal so groß sein wie Kassel, die Füße wund laufen konnte man sich auf der documenta schon immer…
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