Aus den Feuilletons

Alle Jahre wieder Berlinale

Rinko Kikuchi, Regisseurin Isabel Coixet, Juliette Binoche und Gabriel Byrne posieren für die Kamera.
Berlinale-Eröffnungsfilm "Niemand will die Nacht": Die Darsteller Rinko Kikuchi (l), Juliette Binoche (2. v. r) und Gabriel Byrne (r) mit Regisseurin Isabel Coixet © Ekaterina Chesnokova, dpa picture-alliance
Von Arno Orzessek · 07.02.2015
Seit Mitte der Woche ist mal wieder Berlinale-Zeit. Die "SZ"-Kritikerin fand den Eröffnungsfilm "Niemand will die Nacht" der spanischen Regisseurin Isabel Coixet rührend. Der "Spiegel" freute sich schon mal auf die Verfilmung des Softpornos "Fifty Shades of Grey".
Der Dresdner "Wir sind das Volk"-Protestmarschgemeinschaft Pegida geht’s bekanntlich nicht mehr so gut…
Und deshalb wollte die TAGESZEITUNG von ihrem Serien-Orakel und Quatsch-Onkel Friedrich Küppersbusch wissen, ob der Rückzug der alten Anführer Lutz Bachmann und Kathrin Oertel "Hochverrat" gewesen sei.
Darauf Küppersbusch – künstlich empört:
"Absurd. Bachmann hätte genauso rausfliegen können, weil er manchen Pegidisten viel zu wenig Hitlerwitze gemacht hat."
Auch TAZ-Kolumnistin Margarete Stokowski zog besonders dreckige Schreibstiefel an, um der Dresdner Bewegung nachzutreten.
Ihr höhnischer Stinkefinger-Artikel hieß "Resteficken bei Pegida"
Der staatstragendste Bundespräsidenten aller Zeiten
Worüber wir hier kein weiteres Wort verlieren, sondern mit einem weiten atmosphärischen Sprung zum seriösesten, angesehensten und staatstragendsten deutschen Bundespräsidenten aller Zeiten kommen: Richard von Weizsäcker.
Zum Tod von "Häuptling Silberlocke", wie von Weizsäcker einst genannt wurde, bemerkte Thomas Karlauf in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG:
"Ohne je an Bodenhaftung zu verlieren, schien er sich gern in anderen Sphären zu bewegen und hinterließ bisweilen den Eindruck, er sei nur auf die Welt gekommen, um eines Tages das höchste Amt im Staat zu übernehmen."
Karlauf verzichtete auffälligerweise auf den dezidierten Verbeugungs-Tonfall vieler anderer Nachrufe.
Stattdessen erzählte der FAZ-Autor ausführlich, wie unsouverän und ehrpusselig Richard von Weizsäcker reagiert hatte, als die Verstrickung seines Vaters Ernst von Weizsäcker in übelste Nazi-Machenschaften publik geworden war.
Ob Richards berühmte Rede am 8. Mai 1985, dem 40sten Jahrestag des Kriegsendes, tatsächlich ein "heimliches Zwiegespräch mit dem Vater" gewesen war, wie Karlauf behauptet – das sei dahingestellt.
Um dem Toten nichtsdestotrotz die letzte Ehre zu erweisen, erwähnen wir, dass im Berliner TAGESSPIEGEL Alfred Neven DuMont lobte:
"Wiewohl etwas altmodisch, war er ein As."
Und sogar die rotzige, großbürgerlichen Allüren stets abgeneigte TAZ feierte Richard von Weizsäcker als "Das geeignete Vorbild".
Von Vladimir Putin sagt dergleichen zur Zeit fast niemand – abgesehen von einigen russischen Staatsmedien, die vor ihrem Präsidenten verlässlich den Schleimkotau machen.
Mediale Kriegsführung im Ukrainekonflikt
Ganz in diesem Sinne betonte Anna Schor-Tschudnowskaja in der NEUE ZÜRCHER ZEITUNG unter dem Titel "'Eine Wanne voller Blut jeden Abend'":
"Die meisten russischen Medien haben längst nichts mehr mit Journalismus zu tun, sondern treten praktisch als Akteure des zynischen und grausamen 'hybriden Krieges' in der Ostukraine auf. Eine der Folgen dieser medialen Kriegsführung ist die Etablierung einer Deutungswelt, in der Gewalt als das einzige Mittel erscheint, um innen- wie außenpolitische Fragen zu lösen."
In der Unterschrift unter einem Putin-Foto ging die NZZ – es sei aus Zorn oder Geschichtsvergessenheit - so weit, dem russischen Präsidenten ein "stalinistisches [Regierungs-]Modell" nachzusagen.
Anna Schor-Tschudnowskaja erklärte:
"Einer der paradoxen Züge der gegenwärtigen Lage Russlands ist die inhaltliche Leere. Im Gegensatz zu den Zeiten der Sowjetunion hat man keinen kommunistischen Traum und schon gar keine 'lichte Zukunft' zu offerieren. (Die) einzige Ideologie ist die seit Jahren konsequent vertiefte Trennung in 'Unsrige' und 'Nicht-Unsrige', das heißt Feinde, sowie eine immerwährende Konfrontation mit diesen." -
Mitten hineingereist ins Krisengebiet im Osten seines Landes ist der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhandan.
Der in der Wochenzeitung DIE WELT unter dem Titel "Der Krieg, ihr Ein und Alles" berichtete:
"Das offizielle Kiew spricht auch weiterhin nicht laut aus, dass Russland sein Gegner ist. Daher auch die ganze Verwirrung darüber, wer da auf die ukrainischen Militärs und die Zivilbevölkerung hinter ihren Rücken schießt. Ukrainische Soldaten sagen, auf der anderen Seite stünden jetzt ganz offizielle Teile der Armee der Russischen Föderation. Das sagen sie [aber] nicht in die Kameras. Sie sagen es nicht, um irgendjemanden von irgendetwas zu überzeugen. Vielmehr so: Wenn du glauben willst, dass die Leute in den Panzern der anderen Seite Kohlekumpels sind, bitte schön. Aber wir haben diese Kohlekumpels gesehen, ihre Pässe, ihre Soldbücher."
So Kriegsberichterstatter Zhadan in der WELT.
Ein andere große und unübersichtliche Problemzone Europas ist der Euro – aber vielleicht nicht mehr lange, wenn es nach der Wochenzeitung DIE ZEIT geht.
"Raus aus dem Euro", forderte der Gesellschaftsforscher Wolfgang Streeck und betonte am Ende eines wirklich wütenden Artikels:
"Damit sich Europa nicht endgültig in einen Sumpf multinationaler gegenseitiger Inkriminierung verwandelt, mit offenen Grenze und jederzeit in Gefahr, von außen endgültig geflutet zu werden, muss das Monstrum Währungsunion abgewickelt werden." –
Berlinale – alle Jahre wieder
Ab Mitte der Woche dominierte – wie alle Jahre wieder zu dieser Zeit – die Berlinale die Feuilletons…
Und namentlich der Eröffnungsfilm "Niemand will die Nacht" der spanischen Regisseurin Isabel Coixet.
Hoch im allerhöchsten Norden und tiefster Dunkelheit gehen sich darin Juliette Binoche alias Josephine und Rinko Kikuchi alias Inuitfrau Alaka schwer auf die Nerven, dann aber ans Herz.
Susan Vahabzadeh fand's in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG rührend:
"Es gibt nicht viele Filme über Frauensolidarität – und im Kern ist 'Nobody wants the Night' genau das. Die beiden müssen alle Eifersucht, alles Buhlen um (Ehemann bzw. Liebhaber) Peary hinter sich lassen. Alaka hat es schneller kapiert, Josephine versteht erst spät, dass sie ein Mann in diese lebensbedrohliche Situation hineingeritten hat und nur der bedingungslose Zusammenhalt sie retten kann."
Das Magazin DER SPIEGEL textet derweil ganz groß über die Verfilmung des Softpornos "Fifty Shades of Grey".
Doch unsere Zeit ist um. Ob sie an diesem Sonntag nun ins Konzert gehen oder im Bett bleiben, liebe Hörer – wir wünschen Ihnen, mit einer NZZ-Überschrift, hier wie dort "Ton-Lust vom Feinsten".