Aus den Feuilletons

Alle Befürchtungen bewahrheitet

Der CCC-Kongress fand 2013 zum 30. Mal statt - erstmals in Hamburg.
Der CCC-Kongress fand 2013 zum 30. Mal statt - erstmals in Hamburg. © picture alliance / dpa / Malte Christians
Von Tobias Wenzel · 29.12.2013
Das bestimmende Thema in den Feuilletons: Überwachung. Die Autoren besuchen den Kongress des Chaos Computer Clubs in Hamburg und schauen besorgt nach China und Indien. In Indien ist gerade das "größte biometrische Sammelprojekt der Welt" angelaufen.
"Alle 3000 Zuhörer heben ihre Hand", schreibt Hakan Tanriverdi in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG über eine Veranstaltung beim Kongress des Chaos Computer Clubs in Hamburg. Dann erklärt der Journalist, auf welche Frage hin alle 3000 Zuhörer des Saals die Hand gehoben haben: "Wie viele von euch haben ihre Festplatte verschlüsselt?"
Sein Kommentar: "Digitaler Selbstschutz, das ist an diesem Ort eine Selbstverständlichkeit." Die Botschaft des Kongresses laute: "Alle unsere Befürchtungen haben sich bewahrheitet." Gemeint ist der Überwachungswahn. Und nicht nur jener der NSA.
Die NSA sei geradezu ein "Luxusproblem" der westlichen Welt verglichen mit dem, was da gerade in China und Indien passiere, behauptet Andrea Diener. Sie hat für die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG zwei Vorträge auf dem Chaos-Computer-Club-Kongress "atemlos" verfolgt. So berichtete die US-amerikanische Aktivistin Kate Krauss darüber, was in China alles auf einer ID-Karte, einer Art Personalausweis, gespeichert wird: ob man HIV-positiv ist, ob man Drogen nimmt oder genommen hat, ob man als Prostituierte arbeitet, ob man einer ethnischen Minderheit angehört, ob man Anwalt ist, der sich für Menschenrechte einsetzt, ob man sich wegen Enteignung oder Umsiedlung offiziell beschwert hat, ob man depressiv ist.
Die Karte werde nicht nur von der Polizei ausgelesen, sondern auch beim Kauf von Zugtickets, im Internet-Café oder beim Einchecken im Hotel. In den Worten von Andrea Diener: "Wer das Pech hat, auf eine Drogenkarriere zurückblicken zu können, weiß, dass er nach zwanzig Minuten Hotelaufenthalt vermutlich mit Polizeigewalt aus dem Zimmer entfernt wird."
Auch in Indien gedeihe ein Polizeistaat, der seine Bevölkerung nahezu grenzenlos überwache, berichtet die FAZ-Autorin mit Blick auf den Vortrag der Internet-Expertin Maria Xynou aus Bangalore. CMS, "Central Monitoring System", heiße das Überwachungsprogramm, das die indische Regierung gerade in aller Seelenruhe aufbaue. Einen Schutz der Privatsphäre gebe es nämlich in Indien nicht. Vielmehr mache man sich verdächtig, wenn man seine eigenen Daten verschlüssle.
Auch Telefongespräche würden abgehört. "Setzt man Programme wie VerbaCentre des Herstellers Kommlabs Dezign ein, das Stresssignale der Stimme identifizieren und markieren kann", berichtet Andrea Diener, "macht man sich verdächtig, wenn man nicht oft genug entspannt klingt." Außerdem sei in Indien gerade das "größte biometrische Sammelprojekt der Welt" angelaufen. Gesammelt würden Fingerabdrücke und Scans der Iris, offiziell freiwillig, aber – Zitat – "wer sich sperrt, hat keinen Zugang zu behördlichen Leistungen wie Ernährungs- oder Schulprogrammen."
Über solche Probleme muss sich der polnische Dichter Czesław Miłosz nicht mehr den Kopf zerbrechen. Denn im nächsten Jahr ist er schon zehn Jahre tot. Zu Lebzeiten beschäftigte er sich unter anderem mit der Frage, wie man als Dichter die Wirklichkeit zu fassen bekommt. Daran erinnert Nico Bleutge in der SZ, in seiner Rezension eines Bandes mit ausgewählten Gedichten des Literaturnobelpreisträgers, der nun im Hanser-Verlag erschienen ist.
"Was tun wir mit der Wirklichkeit?
Wo ist sie in den Worten?
Kaum blitzt sie auf, ist sie weg",
dichtete Czesław Miłosz. Für Miłosz sei der Dichter ein fliegendes Wesen, führt Nico Bleutge aus: "Und das Wort, das er sucht, ist eine Birne. Der Dichter umkreist sie, hüpft oder berührt sie mit dem Flügel. Aber egal, ob es sich um die Zuckerbirne, die Teigbirne oder die Butterbirne handelt, das Wort entfernt sich von ihm."
Miłosz aber habe angesichts dessen nicht resigniert, sondern im Gegenteil "mit der ihm eigenen Phantasie" einen Ausweg aus der ausweglosen Situation gefunden, und zwar in diesen Versen:
"Zwischen mir und der Birne waren Equipagen, Länder.
Und so werde ich eben leben, verzaubert."