Aus den Feuilletons

Abseits der Rituale des deutschen Großgedenkens

Der Historiker Michael Wolffsohn bei einer Lesung aus seinem Buch "Deutschjüdische Glückskinder" im Jüdischen Museum Berlin
An sechs Prozent der deutschen Bevölkerung sei das Gedenken an den 9. November vorbeigegangen, meint Michael Wolfssohn. © imago stock&people / Uwe Steinert
Von Burkhard Müller-Ullrich · 12.11.2018
„Hass auf ‚die‘ Juden war das Band zwischen Nazismus und Islam(ismus)“, schreibt Michael Wolffsohn in der "FAZ" über die durchaus gemeinsame deutsch-muslimische Geschichte. Er erinnert an ein Kapitel, das kaum Beachtung fand in den Erinnerungen an den 9. November fand.
Der 9. November ist wieder mal vorbei, die Rituale deutschen Großgedenkens wurden vollzogen, der Kampf "gegen das Vergessen" emphatisch bis ekstatisch beschworen, doch an sechs Prozent der deutschen Bevölkerung ging das alles völlig vorbei, schreibt Michael Wolffsohn in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG und meint die Muslime. Denn "kein Gedenkredner hat auch nur einen Gedanken an die durchaus gemeinsame deutsch-muslimische Geschichte, Verantwortung und Haftung verschwendet."
Deshalb klärt der vor 71 Jahren in Tel Aviv geborene Historiker über ein paar selten verlautbarte Zusammenhänge auf: "Im Ersten Weltkrieg war das türkisch dominierte Osmanische Reich, neben Österreich-Ungarn, der wichtigste Verbündete des Deutschen Kaiserreichs. Zur Habsburger Monarchie gehörte damals auch das mehrheitlich muslimische Bosnien-Herzegowina. Dessen Männer kämpften politisch Seite an Seite mit dem Wiener und dem Berliner Kaiser sowie dem Sultan in der osmanischen Hauptstadt Istanbul."
Als viele Juden aus Deutschland und Polen vor dem Nationalsozialismus in den späten 30er Jahren nach Palästina flüchteten, bekamen sie es in Tel Aviv mit deutschen Templern zu tun, von denen 17 Prozent Mitglieder der NSDAP waren. Oder in Wolffsohns Worten: "Kaum dem NS-Reich entflohen, trafen deutsche Juden auf deutsche Nazis und deren arabisch-islamische Waffenbrüder im 'Gelobten Land'. Beide gelobten, auch Palästina 'judenrein' zu machen." Wolffsohn erwähnt den Großmufti von Jerusalem, der im November 1941 von Hitler empfangen wurde und im muslimischen Bosnien-Herzegowina eine SS-Division mobilisierte, sowie die vielen Muslime in Nordafrika, besonders in Ägypten, die mit Hitler sympathisierten.

Viele -ismen und ihre Zusammenhänge

"Hass auf 'die' Juden war das Band zwischen Nazismus und Islam(ismus)", schreibt der Historiker und setzt das "ismus" hinter Islam in Klammern, damit jeder versteht: Die so oft behauptete Trennung zwischen beidem, Islam und Islamismus, kann etwas Beliebiges haben - wie das Setzen einer Klammer. Was aber folgt aus dem Geschichtsexkurs? Nach Wolffsohns Worten dies:
"Zum ganzheitlichen deutschen Wir in Gegenwart und Zukunft gehört, dass alle Teilgruppen der Deutschen Licht und Schatten ihrer Vergangenheit 'aufarbeiten'. Wenn das geschieht, werden keine (oder deutlich weniger) deutsche Muslime und ihre linksdeutschen Freunde 'Juden ins Gas!' brüllen." Soweit Michael Wolffsohns in der FAZ geäußerte Hoffnung.
Und auch die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG bringt noch einen späten 9. November-Artikel, der von einer Veranstaltung im Münchner Literaturhaus handelt. Dort diskutierten die Schauspielerin und Autorin Adriana Altaras, der Historiker Götz Aly, der Pianist Igor Levit und die promovierte Sprachwissenschaftlerin Reyhan Sahin, besser bekannt als Rapperin Lady Bitch Ray, über Antisemitismus. Laut SZ erfuhr man an diesem Abend, "dass man den Judenhass nicht losgelöst betrachten dürfe von Rassismus, Sexismus und all den anderen -ismen, die glauben, Menschen zweiter Klasse ausmachen zu können." Von Lady Bitch Ray heißt es, sie räumte "den Topos eines sogenannten muslimischen Antisemitismus (…) beiseite und erklärte ihn zur Sache eines politisch-islamistischen Milieus." Abgesehen von der Verwendung des Wortes "sogenannt" zeigt die Milieu-Theorie, wie hier versucht wird, ein Strukturproblem, das Wolffsohns Thema war, sozialpädagogisch kleinzureden.
Tun wir also zum Schluss mit der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG einen Schritt ins Offene. Der Autor Simon Strauß gibt im Interview zu Protokoll, daß er "einen intellektuellen Pakt mit jungen, selbstbewussten, liberalen Muslimen" schließen möchte.
"Ob man es nun will oder nicht, aber sie bestimmen immer mehr unsere Gesellschaft", sagt er und obwohl wir einwenden möchten: die liberalen doch wohl gerade nicht, lesen wir weiter und lesen dies: "Wenn man den muslimischen Hintergrund ernst nimmt, findet man ein reges Interesse an Transzendenz, Anbindung an die Vergangenheit und der Vorstellung, daß das Gegenwärtige nicht alles ist. Über Fragen des kulturellen Gedächtnisses kann ich vielleicht mit einem Muslim besser sprechen als mit einem rechten Identitären oder einem linken Aktivisten, der allein auf Identitätspolitik setzt."
Mehr zum Thema