Aus den Feuilletons

50 Jahre Sesamstraße im deutschen TV

04:20 Minuten
Ernie aus der Sesamstrasse hat den Arm um Bert gelegt und ein Quietscheentchen in der Hand.
Feiern Jubiläum: Ernie und Bert aus der Sesamstraße. © IMAGO / Eventpress
Von Tobias Wenzel · 05.04.2021
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1971 lief zum ersten Mal im deutschen Fernsehen die Sesamstraße - die unsynchronisierte Originalfassung als Testprogramm. Von dem unangestrengten Bildungsfernsehen könnte sich die "FAZ" noch ein Scheibchen abschneiden.
"Die Sprache ist ein Meer", lautet eine arabische Redensart. Und damit wir uns in der Sprache nicht verlieren, versuchen die Feuilletons, Orientierung zu geben, durch Sprachkritik.
"Der, die, das, wer, wie, was, wieso, weshalb, warum, wer nicht fragt, bleibt dumm!", schreibt Edo Reents in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Denn im April vor 50 Jahren hatte die Sesamstraße Premiere im westdeutschen Fernsehen.

Sprachkritik als Besserwisserei

Die Sendung habe den Kindern auch beibringen wollen, Relativ- und Interrogativpronomen nicht zu verwechseln. In diesem Punkt sei die Sesamstraße allerdings nicht nachhaltig gewesen, behauptet Reents und führt als Beleg ein ganz aktuelles Beispiel an.
Reents hat im Radio gehört, wie Frido Mann, Enkelkind von Thomas Mann, sagte: "Ich hab ja auch ein neues Buch verfasst, was demnächst erscheinen wird."
Richtig wäre, will uns der FAZ-Redakteur sagen: "ein neues Buch, das demnächst erscheinen wird." Allerdings liegt hier gar keine Verwechslung zwischen Relativ- und Interrogativpronomen vor, wie Reents suggeriert. Denn sowohl "das" als auch "was" sind in diesem Fall Relativpronomen.
Auch wirkt es unfreiwillig komisch, dass Reents den Satz Manns, den er als fehlerhaft moniert, mit dem seinerseits fehlerhaften Satz einleitet: "Ostermontag Morgen ist im Deutschlandradio Kultur zufällig Frido Mann zu hören." Denn diese Welle heißt nun schon seit fast vier Jahren Deutschlandfunk Kultur.

Gerechtigkeit durch geschlechtergerechte Sprache?

Sprachkritik wirkt oft unangenehm besserwisserisch oder puristisch, kann aber auch zum Nachdenken anregen. "Soll Sprache für Gerechtigkeit in Gegenwart und Zukunft sorgen – und: Muss sie das auch für die Vergangenheit?", fragt der Historiker Julien Reitzenstein in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG.
Der Experte für NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte erinnert daran, dass einige Opfer des Nationalsozialismus nach ihrer Ermordung auch noch zu "Forschungszwecken" missbraucht wurden. Auch im damaligen Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) in Berlin.
An der FU Berlin gibt es nun ein Forschungsprojekt dazu. Reitzenstein zitiert aus der Projektbeschreibung im Internet: "Insbesondere Sinti_zze und Rom_nja, J_üdinnen, Schwarze Personen und Menschen mit Behinderung fielen den Arbeiten des KWI-A zum Opfer."
Reitzensteins Kommentar: "Man nahm ihren Besitz, ihre Familien, ihre Würde, ihr Leben, schändete ihre Leichen – und versucht nun, den Ermordeten mit geschlechtergerechter Sprache wozu genau zu verhelfen? Gerechtigkeit? Das wirkt geschmacklos, das ist übergriffig und vor allem – wem ist damit geholfen?"

Untergriffigkeit ist noch trauriger

Apropos "übergriffig": Julia Werner ärgert sich über den inflationären Gebrauch dieses Wortes. Das werde neuerdings nicht nur zur Bezeichnung echter Übergriffe – Beispiel: "Poklapser von kranken Männern" – gebraucht, sondern auch als Reaktion auf "Tipps zur Haushaltsführung, Lebensplanung oder Männerwahl", schreibt Werner in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG.
"Und so entsteht aus der ständigen Angst, dass irgendjemand übergriffig werden könnte, etwas noch viel Traurigeres, nämlich die permanente Untergriffigkeit." Der übermäßige Gebrauch von "übergriffig" ist nicht universal.
Im Griechischen, so Julia Werner, gibt es nicht einmal ein Wort dafür. Griechen seien auch viel zugänglicher, gäben etwa Gassibekanntschaften schon nach wenigen Minuten ihre Handynummer.
In Deutschland werde dagegen viel als unangemessene Grenzüberschreitung empfunden: "Kommt man hier auf die irrsinnige Idee, als Nichthundebesitzer einen fremden Hund zu kommentieren oder – Skandal! – ungefragt mit ihm zu spielen, blickt man in panisch aufgerissene Augen. Der erste Instinkt sagt: Flucht. Verrückte Frau, schnell einen Schritt zulegen!"
Die Überschrift zu Julia Werners SZ-Artikel: "Nur Nächstenhiebe".
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