Aus dem Leben gehen

Von Martin Ahrends |
Freiwillig sterben zu wollen, gehört sich einfach nicht. Auch nur die kleinste Andeutung dieses Wunsches löst hierzulande eher Entsetzen als Verständnis aus. An diesem besonders deutschen Tabu kann man wohl nur verzweifeln, meint der Publizist Martin Ahrends.
An der Straßenecke stand den ganzen Tag ein alter Mann in Galoschen und Schlafanzug, der allem Anschein nach seinem Pflegeheim entwichen war und nun versuchte, unter ein Auto zu kommen, was ihm vor allem deshalb nicht gelang, weil er sich nicht schnell genug bewegen konnte. Sobald er mit seinem Rollator bei Rot mühsam zur Straße hin strebte, kreischten auch schon die Bremsen, und es war wieder nichts mit dem Aus-dem-Leben-gehen.

In den Berliner Nachkriegswochen 1945 ist meine Mutter vergewaltigt worden. Dass sie dieses Kind nie hätte lieben können, hat sie mir erzählt, alles habe sie versucht, all diese berüchtigten Hausmittel, bei denen man so leicht selbst draufgehen könne, habe sie ausprobiert, sei zuletzt immer wieder vom Tisch gesprungen, bis zur Ohnmacht. Endlich sei sie doch zu einem Arzt gegangen, der viel Geld haben und nicht wissen wollte, in welcher Woche sie schwanger war. Hätte sie es ihm gesagt, hätte er es nicht machen dürfen, sagt meine Mutter. Und dass er sich nach dem Eingriff tagelang betrunken habe.

Manch einer kennt Geschichten dieser Art und ist dankbar dafür, dass Schwangerschaftsabbrüche inzwischen so human geregelt sind. Dass die Not dieser Frauen ernst genommen wird, dass diese Not nicht mehr so nahe der Katastrophe wohnt.

Einem langen Siechtum entgehen
Noch immer nah der Katastrophe wohnt die Not derer, die aus dem Leben gehen wollen und nicht dürfen. Das Aus-dem-Leben-gehen haben wir noch lange nicht human geregelt, wir reden nicht einmal darüber, auch dann nicht, wenn ein todkranker Leipziger Autor sich aus dem Klinikfenster stürzt, um dem langen Siechtum zu entgehen, das ihm bevorsteht. Auch dann nicht, wenn mal wieder einer dieser Geisterfahrer einen schweren Unfall angerichtet hat und nur in einem Nebensatz der Nachrichten die Vermutung geäußert wird, dass es sich um einen Suizid gehandelt haben könnte.

Wie oft mag jener Alte von der Straßenecke schon versucht haben, in seinem Pflegeheim Gehör zu finden für seinen Sterbenswunsch, wie oft schon bei seinen Ärzten und Verwandten. Wie oft mögen jener Leipziger Autor oder jener Geisterfahrer die Möglichkeiten durchdacht haben, aus dem Leben zu kommen, ohne Aufsehen zu erregen oder anderen zu schaden.

Und wie viele Menschen in diesem Land wagen es erst gar nicht, diesen Wunsch zu äußern. Denn sterben zu wollen, gehört sich einfach nicht, auch nur die kleinste Andeutung löst eher Entsetzen als Verständnis aus. Hierzulande schweigt man besser vor der Verzweiflungstat. An dem besonders deutschen Tabu in diesen Dingen kann man wohl nur verzweifeln.

Warum können die, die sterben wollen, nicht, wie es heute jede Schwangere kann, zu einer seelsorglich kompetenten Beratungsstelle gehen und bitten: "Helft mir, ich will sterben"? So, wie jede Schwangere in Not eine Beratung aufsuchen kann und bitten: "Helft mir, ich will nicht gebären."

Ohne das Stigma des Selbst-Mörders
Der Schwangeren in Not wird geholfen: Mit jeglicher Beratung und Unterstützung, damit ihre Entscheidung frei sei, wirklich frei von äußerer und innerer Bedrängnis. Denn erst dann kann der Abbruch unter Umständen befürwortet werden. Und erst dann soll der Todeswunsch befürwortet werden. Schwangere Frauen nimmt man ernst, wenn sie gute Gründe haben, ihre Schwangerschaft abzubrechen.

Warum nimmt man Sterbenswillige nicht ernst in ihren guten Gründen? Warum dürfen sie nicht aus dem Leben gehen ohne das Stigma des Selbstmörders? Ohne mit ihren Verzweiflungstaten sich und anderen unnötiges Leid zuzufügen?

Der Alte ist nicht mehr an der Straßenecke aufgetaucht. Ich stelle mir vor, wie er ruhiggestellt und eingesperrt worden ist, dort, wo man seinen Sterbenswunsch nicht gelten lässt. Wo jeden Tag Geld damit verdient wird, dass er 24 Stunden lang atmet. Und ich wünsche ihm von Herzen, dass er es bald hinter sich hat.


Martin Ahrends, Autor und Publizist, geboren 1951 in Berlin. Studium der Musik, Philosophie und Theaterregie. Anfang der 80er Jahre politisch motiviertes Arbeitsverbot in der DDR. 1984 Ausreise aus der DDR. Redakteur bei der Wochenzeitung "Die Zeit" und seit 1996 freier Autor und Publizist.
Der Autor und Publizist Martin Ahrends
Martin Ahrends© privat
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