Augustinus, Arendt, Heidegger

Was ist Liebe?

Ein junger Mann hat sich am 04.08.2015 in Kaufbeuren (Bayern) während eines Sonnenbades eine herzförmige Schablone auf den Rücken geklebt. Bei diesem Trend sehen Hautärzte rot: Junge Leute legen sich derzeit Schablonen auf die Haut - und lassen sich dann absichtlich von der Sonne verbrennen. Gewünschtes Ergebnis: ein zeitlich befristetes Tattoo. Tatsächliches Ergebnis: ein Sonnenbrand.
"Liebe – und tu, was du willst!", schrieb der spätantike Philosoph Augustinus © picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand
Philosophin Tatjana Noemi Tömmel im Gespräch mit Philipp Gessler · 09.04.2017
Den spätantiken Philosophen Augustinus, die Philosophin Hannah Arendt und ihren Kollegen Martin Heidegger verbindet eine Leidenschaft: Alle drei haben viel über Liebe nachgedacht. Ihre Erkenntnisse sind bis heute wertvoll, meint die Philosophin Tatjana Noemi Tömmel.
Philipp Gessler: Die Liebesbeziehung zwischen zwei großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts fasziniert uns noch immer: Auf der einen Seite der antisemitische Philosoph Martin Heidegger, auf der anderen Seite seine frühere Studentin, die später ihm mindestens ebenbürtige Großdenkerin Hannah Arendt. Sie beide waren fasziniert von Augustinus, dem Kirchenlehrer an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert in Nordafrika. Kaum jemand hat das abendländische Denken so geprägt wie er. Heidegger hielt eine Vorlesung über Augustinus, Arendt schrieb eine Doktorarbeit über Augustins Liebesbegriff. Und rund 80 Jahre später analysiert Tatjana Noemi Tömmel in ihrer Doktorarbeit den Liebesbegriff bei Heidegger und Arendt – und ihre Bezüge zu Augustinus. Ich habe mit Tatjana Noemi Tömmel gesprochen. Sie wird am Dienstag kommender Woche um 19 Uhr einen Vortrag in der Berliner Katholischen Akademie zum Liebesbegriff bei Augustinus halten. Meine erste Frage an sie war, wie sie Augustins vielleicht berühmtesten Satz findet: "Liebe – und tu, was du willst!" Ist das nicht ein sehr gefährlicher Satz?
Tatjana Noemi Tömmel: Ja, wenn man ihn als Freibrief versteht, ist er natürlich gefährlich, wenn man darunter versteht, egal was ich liebe, egal wen ich liebe, das gibt mir die Erlaubnis zu tun, was immer ich möchte. Aber so ist es bei Augustinus gerade nicht gemeint. Liebe heißt hier Gottesliebe, das heißt, eine schon von vornherein moralische Einstellung, eine Bindung an Gott, die mich dann von den Gesetzen befreit. Augustinus bezieht sich hier auf Paulus, auf die Paulinischen Briefe, in denen das mehr oder weniger genauso drin steht.

Klare Unterscheidung zwischen Liebe zu Gott und zum Menschen

Gessler: Jetzt ist es ja immer etwas gefährlich, wenn man den Botschafter mit seiner Botschaft vergleicht, in dem Fall Augustinus. Wenn wir auf sein Leben schauen, er hatte für anderthalb Jahrzehnte eine Art Konkubine, wie man sagt, eine Nebenfrau, von der wir noch nicht einmal den Namen richtig wissen. Und gleichzeitig wollte er die verlassen für eine Zwölfjährige, die dann zwei Jahre warten musste, bis er sie heiraten sollte. Die sogenannte Konkubine hat ihn dann entsetzt verlassen, weil er ja auch noch gefordert hat in diesen zwei Jahren, in denen er warten kann, bis er diese junge Frau aus dem richtigen Stand heiraten konnte, sollte sie ihm dann doch noch für sexuelle Dienste zur Verfügung stehen. Übrigens, das war auch die Mutter seines Sohnes. Wenn Sie all das hören, können Sie da eigentlich noch allen Ernstes dieses Schwärmen von Augustinus für die Liebe ernst nehmen?
Skulptur des Heiligen Augustinus am evangelischen Augustinerkloster in Erfurt in Thüringen
Skulptur des Heiligen Augustinus am evangelischen Augustinerkloster in Erfurt in Thüringen© dpa / picture alliance / Rainer Oettel
Tömmel: Augustinus' Liebe ist sicher sowohl praktisch gesehen als auch im Theoretischen problematisch. Er unterscheidet sehr klar zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zum Menschen, und die Liebe zum Menschen wird für die Gottesliebe abgewertet. Man kann in Augustinus Augen nicht Gott und die Welt lieben. Der Mensch muss sich in seiner Liebe entscheiden, entweder Gott oder die Welt. Und natürlich kann man sagen, obwohl das problematisch ist, Autor und Werk so gleichzusetzen, wenn man schon theoretisch das Irdische so abwertet, dann kann man natürlich auch sozusagen in seinem Handeln die Sau rauslassen, wenn man – sozusagen.
Gessler: Sie haben ja Ihre Annäherung an Augustinus so gestaltet oder sie kam so zustande, dass Sie über Hannah Arendt und Martin Heidegger promoviert haben, und zwar den Liebesbegriff von diesen beiden. Und da Hannah Arendt selbst promoviert hat über Augustinus und den Liebesbegriff, sind Sie dann auf Augustinus gekommen. Wie sind Sie auf dieses originelle Thema gekommen? Liegt es daran, dass eben Hannah Arendt und Martin Heidegger selber ein Liebespaar mal waren?
Tömmel: Natürlich hatte meine Idee, darüber zu schreiben, was damit zu tun, dass ich den Briefwechsel gelesen habe, den es nicht gäbe, wenn sie nicht ein Liebespaar gewesen wären. Aber meine Idee war vor allem, gegen diese sonst rein biografische Betrachtung etwas Philosophisches zu setzen. Es gibt eine Reihe von Biografien und Doppelbiografien, wo über die Liebesbeziehung sehr viel spekuliert wird. Wir wissen de facto sehr wenig, und was mich interessiert hat, was, was haben die denn wirklich unter Liebe verstanden? Was heißt Liebe denn? Und das hat vorher fast niemand betrachtet, vor allem nicht als Dialog der beiden.
Die Politologin und Philosophin Hannah Arendt 
Hannah Arendt© picture alliance / dpa
Gessler: Kann man denn das so sehen, dass Hannah Arendt mit der Beschäftigung mit dem Liebesbegriff von Augustinus – Heidegger hat ja auch gelesen zu Augustinus, dass Sie da in gewisser Weise auch ihre eigene Liebesbeziehung zu Heidegger im Grunde philosophisch aufgearbeitet oder verarbeitet hat?
Tömmel: Das ist eine Theorie, die man häufig liest, die ich problematisch finde, weil es typisch ist, dass, wenn eine junge Frau eine Doktorarbeit schreibt, die ganze Welt immer spekuliert, jetzt muss sie sich mit ihrem Geliebten auseinandersetzen. So, als könnte eine Frau nicht von sich aus mal was denken, ohne das da ein persönlicher Kern wäre. Aber es ist insofern nicht ganz falsch, als Heidegger sehr von Augustinus geprägt ist und Augustinus in diesem frühen Briefwechsel eine große Rolle spielt. Also, sie schicken sich immer wieder Zitate von Augustinus zu und sprechen auch durch Augustinus hindurch über ihre Liebe oder über ihr Verständnis der Liebe. Und insofern ist die Doktorarbeit von Arendt nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem problematischen Liebesbegriff von Augustinus, sondern eben auch von Heideggers Liebesbegriff, und insofern ein Stück des fehlenden Dialogs, den Arendt mit Heidegger führt, also fehlend deswegen, weil von dem frühen Briefwechsel nur Heideggers Briefe erhalten sind. Wir wissen nicht, was Arendt ihm geantwortet hat. Wir können das immer nur schließen aus seinen Antworten, weil er die Briefe zerstört hat, damit seine Frau sie nicht findet.

Augustinus' Liebesbegriff ist geprägt von Weltverachtung

Gessler: Jetzt ist ja bei Augustinus, Sie haben es angedeutet, diese Liebe zu Gott schon höher zu werten in seinem Verständnis als die Liebe zur Welt. Hannah Arendt hat das in gewisser Weise kritisiert. Sie hat ja diese Vorstellung schon gehabt der Amor Mundi, also der Liebe zur Welt. Was ist Ihnen denn näher? Diese leicht tendenzielle Weltflucht, die man bei Augustinus herauslesen kann, oder dieses Hineingehen in die Welt, das man bei Arendt schon sehen kann?
Tömmel: Mir ist Arendt auf jeden Fall näher. Reine Weltflucht ist noch was, was ich psychologisch gut nachvollziehen kann, weil die Welt ja nicht immer leicht zu ertragen ist. Aber bei Augustinus steigert sich das eigentlich wirklich in eine Weltverachtung. Und das finde ich zutiefst problematisch. Und Arendt nimmt tatsächlich den Begriff Amor Mundi, den nimmt sie von Augustinus und wendet ihn um. Sie übernimmt diesen Begriff mit umgekehrtem Vorzeichen und sieht darin was ganz Positives. Also Augustinus sagt, wenn ihr die Welt liebt, könnt ihr Gott nicht lieben. Dann geht ihr im Grunde dem ewigen Heil verloren. Arendt macht daraus was unglaublich Produktives. Ich finde es auch ein schönes Beispiel für eine Auseinandersetzung, die sehr kritisch ist, die aber trotzdem nicht deswegen sagt, Augustinus muss man nicht mehr lesen oder so.
Martin Heidegger
Martin Heidegger© imago / United Archives International
Gessler: Es gibt diesen anderen wunderschönen Satz von Augustinus: "So viel in dir die Liebe wächst, so viel wächst die Schönheit in dir, denn die Liebe ist die Schönheit der Seele." Das sagt Augustinus, und ich glaube, das ist eigentlich Poesie. Muss man Augustinus eigentlich poetisch lesen?
Tömmel: Ja, ich stimme Ihnen zu, das ist ein sehr schöner Satz, einer von vielen, und Augustinus war zweifellos nicht nur ein ganz großer Theologe und Kirchenlehrer, sondern auch ein unglaublicher Schriftsteller. Ganz besonders im Original merkt man dann noch den wunderbaren Rhythmus, den seine lateinischen Sätze haben. Ich denke, man kann Augustinus problemlos, wie auch übrigens viele Passagen aus der Bibel natürlich, einfach als Literatur lesen. Er ist auch nicht umsonst der erste Biograf der Weltliteratur.
Gessler: Deswegen ist er ja auch immer wieder gelesen worden, und seine "Confessiones", also seine "Bekenntnisse" sind ja bis heute Weltliteratur. Ich habe neulich gehört, dass Augustinus immer noch so populär ist oder die Leute noch so beschäftigt, dass pro Jahr ungefähr 20 Publikationen zu ihm erscheinen, wissenschaftliche Publikationen. Das heißt, ein Mensch, der 1.700 Jahre schon tot ist, oder knapp 1.700 Jahre, beschäftigt die Welt immer noch. Wie erklären Sie sich das?

"Der erste wirklich große Psychologe"

Tömmel: Das hat sicher viele Ursachen. Das eine ist, dass er sicher, wie Sie eben gesagt haben, ein großer Poet ist, ein großer Schriftsteller. Dann ist er in gewisser Weise der erste wirklich große Psychologe, man kann fast schon sagen, der erste moderne Mensch, trotz – also man darf es natürlich auch nicht übertreiben. Natürlich ist er auch ein antiker Mensch trotz allem, aber die Tiefgründigkeit oder die Feinsinnigkeit, mit der er die kleinsten menschlichen Regungen gerade in den "Bekenntnissen" auseinandernimmt oder auch zum Beispiel Beobachtungen über das kindliche Gemüt. Das ist so beeindruckend, weil man so was überhaupt nicht sonst hat aus der Zeit. Wahrscheinlich liegt ein Teil der Faszination in dieser Mischung aus einer Figur, die sehr weit von uns entfernt ist, die eben der Antike zugehört, und die gleichzeitig sehr modern anmutet.
Gessler: Nun ist ja Hannah Arendt, und das ist ja Ihr Spezialgebiet, eine jüdische Intellektuelle, kann man sagen. Ich weiß nicht, ob sie sich selbst so bezeichnen würde, aber man kann sie so begreifen. Gleichzeitig hat sie sich mit diesem großen Kirchenlehrer, dem christlichen großen Theologen Augustinus beschäftigt. Sind die beiden denn, die ja schon irgendwie aus recht unterschiedlichen Welten kommen, irgendwie zueinandergekommen?
Tömmel: Ja, das glaube ich auf jeden Fall. Arendt hat ja auch evangelische Theologie studiert, nicht nur Philosophie und Griechisch, sondern auch Theologie, und kannte sich zumindest in dieser frühen Phase sicher besser mit christlicher Theologie aus als mit jüdischer. Das ist eine Phase, mit der sie sich erst später auseinandergesetzt hat, als es eigentlich für das deutsche Judentum so problematisch wurde. Dadurch kam ihr Interesse erst auf. Davor – sie sagt mal: Das Judentum ist mehr eine ästhetische Angelegenheit, also in den 20er-Jahren. Und was ich faszinierend an ihr finde, ist, ich habe das vorhin schon angedeutet, dass sie wirklich eine polemische Auseinandersetzung mit jemandem führen kann, wie mit Augustinus, und gleichzeitig ihn als ihren großen Freund und Gönner bezeichnet. Das würde man nicht erwarten, wenn man die Dissertation liest, weil man denkt, sie lehnt das total ab, was er sagt. Aber sein Denken begleitet sie bis zu ihren letzten Schriften. Bis in die 70er-Jahre tauchen immer wieder seine Gedanken über den Willen, über die Zerrissenheit des Willens und die Heilung des Willens durch Liebe auf.

Liebe als ästhetischer Gegenstand, der immer wieder erfreut

Gessler: Wenn ich Ihnen mal eine ein bisschen persönliche Frage stellen darf: Sie haben sich jetzt mit dem Liebesbegriff von Augustinus beschäftigt, mit dem von Hannah Arendt, mit dem von Martin Heidegger. Ist Ihr Verständnis von Liebe dadurch gewachsen, hat es Sie verändert?
Tömmel: Es wäre ja schrecklich, wenn sich das nicht verändert hätte. Dann wären die vielen Jahre ja irgendwie sinnlos gewesen. Auf jeden Fall. Das ist auch das Schöne an der Philosophie, dass man doch sehr in Kontakt mit seinem auch persönlichen Leben steht. Bei Augustinus ist es zum Beispiel ein Satz, den ich eigentlich am meisten liebe, und zwar: Meine Liebe ist meine Schwerkraft oder mein Schwerpunkt. Wo immer hin ich gezogen werde, werde ich von ihr gezogen. Das heißt, was mich im Kern ausmacht, ist das, was ich liebe oder der Gegenstand meiner Liebe macht mich im Kern aus. Und ich denke, das ist zwar ein Satz, der 1.600 Jahre alt ist, den wir aber ganz genau so heute übernehmen können. Also, wenn wir wissen wollen, wie wir zum Beispiel glücklich werden wollen, dann müssen wir schauen, was uns wirklich am Herzen liegt. Ich denke, das ist etwas, was wir von Augustinus lernen können, ohne dass wir zum Beispiel seine Weltverachtung übernehmen müssen.
Gessler: Trotzdem bleibt Ihnen auch persönlich, obwohl Sie sich jetzt so intensiv mit Liebe philosophisch beschäftigt haben, trotzdem die Liebe irgendwie ein Rätsel?
Tömmel: Ein Rätsel …? Mich hat mal jemand gefragt, ob ich mich überhaupt noch verlieben könnte, wenn ich mich so viel theoretisch mit Liebe beschäftigen würde. Ich glaube, das Gegenteil ist wahr, dass, je mehr man sich gedanklich mit etwas beschäftigt, desto tiefer wird es auch emotional. Insofern bin ich mit dem Ausdruck "Rätsel" nicht so ganz glücklich. Aber das heißt nicht, dass es irgendwie für mich einfach alles erklärt und sozusagen ans Tageslicht gebracht ist und deswegen nicht mehr interessant ist. Es ist ein Gegenstand, so wie ein ästhetischer Gegenstand, mit dem man sich immer beschäftigen kann, der einen im eigenen Leben immer wieder freut, für den man dankbar ist, und der nicht einfach aufgeklärt und dadurch uninteressant wird.
Gessler: Vielen Dank, Frau Doktor Tömmel! Das war ein Gespräch mit der Autorin und Philosophin Tatjana Noemi Tömmel. Ihr Buch "Wille und Passion. Der Liebesbegriff bei Heidegger und Arendt" ist 2013 im Suhrkamp-Verlag erschienen und kostet 18 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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