Augenzeuge deutscher Geschichte

21.12.2009
Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom hat die Zeit der Wende und der Wiedervereinigung teilweise selbst miterlebt. In "Berlin 1989 | 2009" gibt er ein anschauliches Bild der sich rapide wandelnden Deutschländer.
Die Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag des Mauerfalls sind eben vorüber, schon trägt ein Buch von Cees Nooteboom beide Daten im Titel. "Berlin 1989 | 2009" enthält die bekannten "Berliner Notizen" aus den Jahren 1989 und 1990, ergänzt um Reisefeuilletons aus den folgenden Jahren ("Berliner Notizen II") und gefolgt von 2008 verfassten "Berliner Notizen III". Als Prolog dient ein Text aus dem Jahre 1963: Der niederländische Schriftsteller und Publizist ist nacheinander Augenzeuge des VI. SED-Parteitags, des Mauerfalls und des vereinigten Deutschland.

Das Zentrum des Bandes sind die bereits 1991 veröffentlichten "Berliner Notizen", nun mit einer "I" versehen. Im März 1989 kommt Nooteboom als DAAD-Stipendiat in die Mauerstadt. In den ersten Tagen bemerkt er einmal, dass er sein Berliner Wohnhaus gar nicht genau angesehen hat, und beruhigt sich: "Irgendwo anders wohnen ist etwas anderes als reisen (...). Mein Blick muss nicht ständig scharf gestellt sein, ich habe noch Zeit (...)."

Der Wohnende blickt lässiger. Dann besucht Gorbatschow, der in der DDR gefürchtete Held der Perestroika, die Bundesrepublik, und Nooteboom findet, der Generalsekretär habe die DDR "umzingelt". Unmerklich steigert sich das Tempo der Veränderungen und reißt den Autoren mit, der bemerkenswerte Kenntnisse der deutschen Geschichte besitzt.

Bald pflanzt er mit jungen Leuten Bäume auf dem ehemaligen Todesstreifen, wundert sich über westdeutsche Intellektuelle, die eine Konföderation, keine Vereinigung ersehnen, und ist sich schon im Januar 1990 sicher, dass die Einheit, das "Zusammensickern", kommen wird.

Noteboom versetzt sich auch in die Lage der Ostdeutschen, für die sich so vieles ändert. Aus zahlreichen Reisen, Begegnungen, Ausstellungs- und Museumsbesuchen, Zeitungslektüren, Spaziergängen entsteht ein reiches, anschauliches Bild der sich rapide wandelnden Deutschländer, und nicht selten überkommt den Leser, der manches wiedererkennt, der Neid – ach, wäre man damals doch auch hier oder dort dabei gewesen.

Dann fährt Nooteboom zurück in seine Heimat, und als er wiederkommt in das vereinigte Deutschland, ist der Faden gerissen. Die Verhältnisse sind zähflüssig geworden, und der Augenzeuge historischer Augenblicke wird zum distanzierten Betrachter deutscher Routine.

Wieder geht und fährt Nooteboom in Berlin und anderswo umher, aber nun hält die Feuilletons keine Erregung mehr zusammen. Unverbunden stehen nebeneinander der Besuch des Museums der bedingungslosen Kapitulation in Karlshorst, der eines Stücks von Botho Strauß an der Schaubühne, der Gang nach Plötzensee zur Gedenkstätte des deutschen Widerstands. "Ich wohne jetzt hier", heißt es ein wenig enttäuscht, "in den Kulissen meiner früheren Erregung und werde zusammen mit der Stadt normalisiert." Es herrscht "Wartezeit".

Berlin und Autor treten auseinander, Nooteboom spricht etwas öfter von sich: von der verschütteten Erinnerung an die ersten Jahre seines Lebens, weil vor den Augen des geschockten Sechsjährigen deutsche Soldaten auftauchten, die die Niederlande besetzten. Mit der Rede bei den Berliner Lektionen und einem Zeitungsfeuilleton zur Weihnacht 2008 endet das Buch. Das sieht ein wenig nach Resteverwertung eines klugen Causeurs aus, zeichnet aber auch mühelos die stark abgeflaute Erregungskurve in Deutschland nach.

Besprochen von Jörg Plath

Cees Nooteboom: "Berlin 1989 | 2009". Mit Fotos von Simone Sassen.
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen und Rosemarie Still.
Suhrkamp Taschenbuchverlag. Frankfurt am Main 2009. 400 Seiten, 12 EUR
Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom
Cees Nooteboom© AFP