Auftakt des Lyriksommers

Geborgte Wörter, ausgeliehene Reime

Der slowenische Autor, Übersetzer, Lektor und Verleger Aleš Šteger bei uns im Studio; Aufnahme vom 14. April 2016
Der slowenische Autor, Übersetzer, Lektor und Verleger Aleš Šteger: Lyrik als Sampling © Deutschlandradio / M. Hucht
Aleš Šteger im Gespräch mit Dieter Kassel · 01.08.2016
Heute beginnt bei uns der Lyriksommer. Den ganzen August über werden Autorinnen und Autoren uns ihre Lieblings-Lyriker vorstellen. Der slowenische Lyriker, Herausgeber und Übersetzer Aleš Šteger warb gleich zu Anfang für ein realistisches Bild auf die Kunst des Dichtens.
Für den diesjährigen Lyriksommer haben wir Autorinnen und Autoren gebeten, ihre liebsten Lyriker und deren Werke vorzustellen. Den ganzen Monat über wird die Kunst des Dichtens in allen Ausgaben von Studio 9, in der Sendung Lesart und der Sendung Fazit immer wieder Thema sein. Als ersten Gesprächspartner haben wir den slowenischen Lyriker, Herausgeber und Übersetzer Aleš Šteger eingeladen. Und der warb sogleich für einen realistischen Blick auf die Kunst des Dichtens.
Der Dichter hat laut Šteger eine eigene Stimme, lebt aber auch davon, was andere Lyriker vor ihm geschrieben haben. Als Dichter versuche man, den Neigungswinkel der Zeit einzufangen und die eigene persönliche Existenz zu reflektieren, sagte er im Deutschlandradio Kultur. Die "romantische Vorstellung" von Authentizität und Originalität – der "geniale Dichter", der alles aus sich selbst schöpft – sei ihm aber fremd. Das meiste, was Lyriker produzierten, sei "geborgt", "ausgeliehen" und dialogisch mit den Werken anderer Dichter konstruiert.

Das Gespräch im Wortlaut:

Dieter Kassel: Ab heute hören Sie den ganzen Monat lang in dieser Sendung hier, "Studio 9 am Morgen", aber auch in den anderen Ausgaben von "Studio 9" sowie in der "Lesart" jeden Tag ab 10:07 Uhr und abends in "Fazit" ab 23:07 Uhr Autorinnen und Autoren, die über Lyrik sprechen, die jeweils ein Lyriker oder eine Lyrikerin und einige Zeilen, die sie besonders beeindruckt haben, vorstellen.
Das passiert den ganzen Monat live im Programm, das passiert aber auch im Internet unter deutschlandradiokultur.de. Und zum Auftakt unseres Lyriksommers habe ich vor der Sendung mit Aleš Šteger geredet. Er ist slowenischer Dichter und Herausgeber, Übersetzer und Verleger, und ich habe ihn gefragt - nicht, wie er schreibt, sondern ich habe ihn gefragt, wie er selbst Gedichte liest.
Aleš Šteger: Das hängt eigentlich von der Jahreszeit ab. Es gibt Perioden, wo ich wirklich wie, ja, wie soll ich sagen, fast animalisch nach Instinkt schon Gelesenes durchwühle und dann Texte wiederlese. Das ist eine ganz andere Lesart. Ansonsten versuche ich natürlich, vor allem durch Zeitschriften und eben durch Publikationen mich auf dem Laufenden zu halten.
Obwohl, ich muss sagen, das hat sich auch gewandelt. Mit den Jahren liebe ich eigentlich das Wiederlesen, das Wieder-in-ein-lyrisches-Werk-Eintauchen noch viel lieber als jetzt Neuentdeckungen.
Kassel: Weil Sie gerade gesagt haben, es ist von der Jahreszeit abhängig, nun haben wir ja gerade Sommer, richtig Hochsommer in ganz Europa. Ist denn der Sommer für Sie eine besondere Lyrikzeit oder eher eine Zeit, wo Sie sagen, oh, da mache ich eher was anderes?

Im Sommer Prosa, im Winter Lyrik

Šteger: Im Sommer lese ich dann meistens auch sehr viel Prosa. Lyrik ist für mich etwas Intimes, in mich Hineingekehrtes sozusagen. Und dazu passt der Winter viel besser als der Sommer.
Kassel: Sie haben ja schon gesagt, dass Sie allein schon aus beruflichen Gründen versuchen, immer auf dem Laufenden zu sein, was zeitgenössische Lyrik angeht. Aber wenn Sie ganz privat, zum Genuss oder aus einem bestimmten Bedürfnis heraus lesen, bevorzugen Sie dann auch eher das Zeitgenössische oder eher das Historische?
Šteger: Ich bin da schon sehr dem 20., 21. Jahrhundert verbunden. Das sieht man auch vielleicht an den Texten, die ich übersetzt habe. Ich habe mehrere Dichter aus dem Deutschen, Spanischen, auch Englischen übersetzt.
Ich habe eigentlich ausschließlich aus persönlichen Interessen mir Lyriker auserwählt, deren Werk mich so angesprochen hat, dass ich in diesen sehr intensiven Dialog eintreten wollte, den man als Übersetzer eben mit einem Werk hat. Und wenn ich jetzt zurückschaue, sind das fast ausschließlich Lyriker aus dem 20. Jahrhundert. Hat sich so ergeben.
Obwohl, es gibt dann einzelne Stimmen, die mir meist dann doch auch leider vor allem über Übersetzungen zugänglich sind, zum Beispiel Dschelaleddin Rumi, die jetzt weiter in der Geschichte zurückragen, die mich aber sehr intensiv ansprechen durch das, was ich lese. Obwohl, wenn man die Originalsprache nicht kann, muss man dann immer davon ausgehen, dass man eben eine doppelte Stimme liest, die Stimme des Lyrikers, gebrochen und rübergetragen durch die Stimme des Übersetzers.
Kassel: Das stelle ich mir auch recht schwierig vor, Gedichte zu übersetzen, viel schwieriger noch als Prosa, was natürlich auch nicht einfach ist. Nun sind Sie einerseits selbst Autor von Lyrik, Sie lesen sie privat und Sie sind beruflicher Übersetzer. Wenn man so viel Gedichte liest und in sich aufnimmt, wie viel von dem, von dem sozusagen Fremden steckt dann bei Ihnen am Ende in Ihrem eigenen Werk mit drin?

Das Eigene ist doch sehr fraglich

Šteger: Also, das Eigene ist sehr fraglich. Man hat schon so was wie eine Stimme, aber eigentlich empfinde ich überhaupt Lyrik, die Dichtung als etwas, das man von jemandem, der vielleicht vor ein paar Jahrhunderten schrieb, geborgt bekommt und das man weitergeben sollte.
Man verändert es ein wenig, man kombiniert es, man versucht natürlich, den Neigungswinkel der Zeit eigentlich zu erwischen, die persönliche, existenzielle Lage damit einzufangen, aber eigentlich ist die Art von Authentizität, von Originalität, die eigentlich eine romantische Vorstellung ist – der geniale Dichter, der jetzt alles aus Null erfindet – das ist mir fremd.
Ich glaube, wir, also Lyriker, wir sind Menschen, die ein sensibles Ohr für Sprache haben, die aber auch genau deshalb genau wissen, dass das meiste ja geborgt, ausgeliehen, dialogisch eigentlich konstruiert ist.
Kassel: Das ist glaube ich bei kreativen Tätigkeiten und vermutlich auch bei anderen doch immer so. Weil, wir leben doch alle in dieser Welt. Und wenn wir bei Schrift bleiben, bei dem, was geschrieben wurde, Sie kennen Dinge, die heute geschrieben werden, Sie kennen einen relativ großen Teil dessen, was in den letzten Jahrzehnten, Jahrhunderten geschrieben wurde, man kann ja sich davon nicht frei machen, dass man eben nicht der Erste ist, der so was tut.
Šteger: Man soll sich auch nicht freimachen. Das große Geheimnis, die große Frage ist: Warum spricht mich als jetzt, Ales Steger, genau dieses Gedicht so stark an, und nicht ein anderes? Qualitativ oder – unter Anführungszeichen – objektiv gesehen sind das vielleicht gleich starke, gleich wichtige Gedichte, aber das eine spricht mich viel stärker persönlich an.

Seelen sprechen über Jahrhunderte miteinander

Das ist eigentlich eine Frage, die auch auf einen persönlich dann immer wieder zurückzielt und die eine Frage-und-Antwort-Schleife entwickelt, die dann wirklich so einen enigmatischen Kern der Dichtung ausmacht. Diese Art von Geheimnis, das Geheimnis von, ja, pathetisch gesagt: vielleicht Seelen, die einander ansprechen über Jahrhunderte, Jahrtausende, das ist schon etwas, das sprachlich und spirituell sehr interessant ist.
Kassel: Wir werden jetzt einen Monat lang versuchen, dieses Geheimnis in Einzelfällen zu lüften. Und ich will gar nicht darüber spekulieren, wann es gelingen wird und wann nicht, wir werden auf jeden Fall hier im Deutschlandradio Kultur im August täglich in allen unseren Sendungen Autoren hören, die ihre Lieblingsgedichte und ihrer Lieblingsdichter vorstellen und auch mehr oder weniger dann versuchen zu erklären, warum gerade das sie sich ausgesucht haben.
Und einen Überblick darüber bekommen Sie natürlich auch jederzeit im Internet unter deutschlandradiokultur.de. Das war der offizielle Start unseres Lyriksommers mit dem slowenischen Dichter, Herausgeber, Übersetzer und noch so vielem mehr, und nicht zuletzt auch Leser Ales Šteger. Herr Šteger, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch und wünsche Ihnen viele, viele wunderbare Leseerlebnisse, und jetzt im Sommer auch gerne mal in Prosa! Danke schön!
Šteger: Ich danke Ihnen, und einen schönen Sommer an die Zuhörer!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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