Aufstieg und Fall in der Pariser Gesellschaft

10.01.2008
In einer aufwändigen Ausgabe hat der Diogenes-Verlag verschiedene Geschichten des Titanen der französischen Literatur vereint. In "Vater Goriot" zeigt Balzac die Kehrseite übermäßiger Elternliebe: Ein Nudelfabrikant ist besessen von seinen Töchtern und kann ihnen keinen Wunsch abschlagen, was sich gegen ihn kehrt.
"Geld ist Leben. Vermögen bedeutet alles" ruft der geplagte Vater Goriot aus, als seine vortrefflich verheirateten Töchter ihm eröffnen, dass ihre Ehemänner dem Ruin nahe sind und alle seine Bemühungen um eine glanzvolle Zukunft der Kinder umsonst waren. Innerhalb von sechs Wochen niedergeschrieben und 1834/35 in der Zeitschrift "La Revue de Paris" erstmals veröffentlicht, macht Balzac eine armselige Pension zum Ausgangspunkt seiner Geschichte, die Ende des Jahres 1819 spielt.

Das schmierige Etablissement wird von der halsabschneiderischen Madame Vauquer geführt. Unter den Gästen sind der Nudelfabrikant Vater Goriot, äußerst schlecht beleumundet, aber eigentlich ein fleißiger Geschäftsmann, der mit Spekulationskäufen während der Revolution reich geworden ist, dann der herzensgute Student Eugène de Rastignac, Spross einer verarmten adligen Familie aus Südfrankreich und durch seine wohlhabende Cousine in die höhere Gesellschaft eingeführt, und schließlich der gewissenlose Vautrin, ein entflohener Zuchthäusler, der sich den Studenten gefügig machen will und ihm die ungeschriebenen Gesetze der Salons erläutert.

Trunken von den Reichtümern und luxuriösen Lebensgewohnheiten seiner entfernten Verwandten wird Eugène nämlich von einem einzigen Wunsch ergriffen, den Balzac aus seinem eigenen Leben nur gar zu gut kannte: Er wollte aufsteigen und ein vermögender Mann werden. Durch einen Zufall klärt Eugène das Geheimnis seines zu Unrecht so verrufenen Pensionsgenossen Vater Goriot auf: Dieser Mann hatte durch sein Vermögen seinen Töchtern Anastasie und Delphine zu guten Partien verholfen und selbst auf alles verzichtet. Aber seine Töchter schämen sich ihrer Herkunft und verleugnen den Vater.

Eugène, von seiner Cousine in die Gepflogenheiten der Damenwelt eingeweiht, will zum Geliebten Delphines avancieren, die unglücklich mit dem Bankier de Nuncingen verheiratet ist. Gleichzeitig versucht der finstere Vautrin den Studenten für ein lukratives Vorhaben zu gewinnen, bei dem allerdings ein Erbschleicher über die Klinge springen müsste. Eugène solle der schüchternen Victorine, ebenfalls in der Pension beherbergt, die Ehe versprechen. Über Umwege würde Vautrin dafür sorgen, dass ihr Bruder bei einem Duell ums Leben käme und das Mädchen auf diese Weise ihr rechtmäßiges Erbe zugesprochen bekäme. Entsetzt verweigert sich Eugène diesen Plänen, die dennoch ihren Lauf nehmen.

Am Ende überstürzen sich die Ereignisse: Vautrin entpuppt sich endgültig als Halunke und geht der Polizei ins Netz, Eugène wird von Delphine mit einer angemessenen Wohnung samt Rente bedacht, aber der augenscheinlich so sichere Reichtum beider Goriot-Töchter löst sich in Luft auf. Der arme alte Mann veräußert buchstäblich sein letztes Hemd, doch weder Delphine noch Anastasie stehen ihm bei, als er krank wird. Nicht die Armut, sondern die Kälte seiner Töchter bricht ihm endgültig das Herz. Er stirbt allein und einsam, nur Eugène und sein Freund Bianchon, ein aufrichtiger Student der Medizin, stehen ihm bei.

Mit großer Nüchternheit schildert Honoré de Balzac (1799–1850) in "Vater Goriot" die Kehrseite übermäßiger Elternliebe: Der wackere Nudelfabrikant ist besessen von seinen Töchtern und kann ihnen keinen Wunsch abschlagen, was sich schließlich gegen ihn richtet. Gleichzeitig ist "Vater Goriot" ein Lehrstück über die Verführungskraft des Geldes und kennzeichnet damit den Kern der Comédie humaine.

Um Aufstieg und Fall in der Pariser Gesellschaft, um eitle Versprechungen von Wohlstand und Luxus, um zwielichtige Geschäfte, Spiel und Spekulation und den fortwährend lauernden Bankrott kreisen zahlreiche Romane und Erzählungen von Balzacs umfangreichem Werk, das er unter dem Oberbegriff Comédie humaine – Die menschliche Komödie zusammenfasst und mit zahlreichen Querverbindungen versieht.

Der Schriftsteller unternimmt in seinen rund 90 Romanen und Erzählungen den Versuch, die französische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu rekonstruieren, wobei der soziale Aspekt ebenso berücksichtigt wird wie der regionale. Seine Geschichten, deren Personal eng miteinander verwoben ist, haben ganz unterschiedliche Milieus zum Gegenstand und sind sowohl in der Stadt als auch auf dem Land angesiedelt.

Balzacs Figuren sind nicht nur Individuen, sondern verkörpern durch ihre Berufe eine bestimmte gesellschaftliche Rolle: Bankier, Geschäftsmann, Arzt, Journalist oder Vater. In ihren Schicksalen verknüpft er das Besondere mit dem Allgemeinen und illustriert auf diese Weise einen bestimmten Ausschnitt der zeitgenössischen Gesellschaft. Besonders aufschlussreich ist dabei, dass es einerseits um den aktuellen Zustand geht, andererseits aber auch um die Entstehung von Strukturen.

Das Ursprungsdatum der Umwälzungen ist die französische Revolution; in der Folge geraten die Stationen des Empire über die Phase der Restauration bis zur Julimonarchie in den Blick. Balzac will zum inneren Kern der Gesellschaft vordringen, zum "moteur social". Sorgfältig gestaltet, in revidierter Übersetzung und mit informativen Nachworten versehen, legt der Diogenes Verlag jetzt eine Kassette mit acht Bänden vor, die einen wunderbaren Querschnitt der Comédie humaine liefert.

Unter den acht Bänden ist auch der Roman "Verlorene Illusionen", bis heute eines der mitreißendsten Werke der Comédie. Balzacs ambitionierter Plan, mit der Comédie eine Geschichte der Sitten und Gebräuche der französischen Gesellschaft vorzulegen, findet in dem zwischen 1837 und 1844 in drei Teilen erschienenen Verlorenen Illusionen seinen vollkommenen Ausdruck. Eigentlich geht es um nichts anderes als um die Kapitalisierung sozialer Beziehungen: schonungslos entlarvt der Autor, wie die Kunst zur Ware wird.

Die Handlung ist in der Phase der Restauration angesiedelt, zwischen 1821 und 1822. Im Mittelpunkt steht Lucien Chardon, ein ehrgeiziger junger Dichter aus dem Süden. Nach ersten Höhenflügen und Bruchlandungen in der Pariser Gesellschaft wird er ein berechnender und erfolgreicher Journalist, gewinnt das Herz seiner angebeteten Coralie, einer Schauspielerin, verstrickt sich in Intrigen und erlangt Zutritt zu den gehobenen Schichten. Aber sein Glück zerbricht, er kehrt in die Provinz zurück, wird durch unglückliche Verkettungen in Schuldhaft genommen und ist dem Selbstmord nahe.

Noch einmal wendet sich das Blatt, Lucien landet bei der Erfindung preisgünstiger Papierherstellung einen Coup, es kommt zu Verwicklungen, aber schließlich sichert sich der Held einen friedlichen Lebensabend. "Verlorene Illusionen", nach den Worten Walter Benjamins "ein nahrhaftes Gericht", das dazu da ist, "verschlungen zu werden", ist nicht nur die Charakterstudie einer neuen Spezies, nämlich der des Journalisten, sondern liefert zugleich eine messerscharfe Satire auf die Presselandschaft während der Restauration.

In seinen Romanen tritt uns Balzac als der Vertreter eines farbenprächtigen Realismus entgegen, der auch 158 Jahre nach seinem Tod nichts von seiner Eingängigkeit verloren hat. Der Titan der französischen Literaturgeschichte bringt den Charakter des modernen Menschen auf den Punkt. Immer wieder geht es bei ihm um die Dynamik von gesellschaftlichen Veränderungen. Ihren Ursprung findet diese Dynamik im Wunsch des Aufstiegs und dem Drängen nach materiellem Erfolg. Der Aufstieg muss gelingen – wie hoch der Preis dafür sein kann, wissen die Balzacschen Helden am besten zu berichten. Brisant sind Balzacs Erkenntnisse bis heute.

Rezensiert von Maike Albath

Honoré de Balzac, Romane und Erzählungen. Diogenes Verlag 2007. Kassette mit acht Bänden, 4224 Seiten für 99,00 Euro
Auch in Einzelbänden erhältlich: Verlorene Illusionen. Aus dem Französischen von Otto Flake. 858 Seiten, 16,80 Euro. Vater Goriot, Aus dem Französischen von Rosa Schapire. 367 Seiten, 12,80 Euro.
(Weitere Bände der Kassette: Glanz und Elend der Kurtisanen, Der Talisman, Eugène Grandet, Cousin Pons, Tante Lisbeth, Das unbekannte Meisterwerk)