Aufstieg und Fall eines jungen Ästheten

Rezensiert von Joachim Scholl · 02.12.2005
In seinem Roman entfaltet Alan Hollinghurst, einer der besten Autoren Großbritanniens, ein grandioses Gesellschafts- und Sittenpanorama des London der 80er Jahre. Aus dem zurückhaltenden Studenten Nick wird ein Dandy, der sich zum Ästheten stilisiert. Das Buch wurde 2004 mit dem Booker-Preis gekrönt.
Wie kommt ein mittelloser Literaturstudent aus der Provinz dazu, mit der englischen Premierministerin Margaret Thatcher das Tanzbein zu schwingen? Ganz einfach: Er kennt die richtigen Leute! So geschieht es dem 20-jährigen Nick Guest, der in der eleganten Londoner Villa des Tory-Abgeordneten Gerald Fedden ein Zimmer unter dem Dach bewohnt. Als Freund und Studienkollege von deren Sohn wird Nick von den Feddens quasi "adoptiert", und so bieten sich ihm glänzende Aus- und Einsichten in das Leben der britischen Upperclass.

Es ist das Jahr 1983: Geld und Einfluss bestimmen den Zeitgeist, es ist die Epoche der raschen Karrieren, ein ungebremster Wirtschafts-Liberalismus dominiert, auch der Nachwuchs verehrt die Ideale von Reichtum und Status. In dieser Sphäre tummelt sich Nick bald wie ein Fisch im Wasser, auf mondänen Partys konsumiert er Kokain, aus dem höflichen und zurückhaltenden Studenten wird ein Dandy, der sich zum Ästheten stilisiert und im Kreis von Lords und Ladies über die "line of beauty", die Schönheitslinie schwadroniert – ein kunsthistorisches Motiv aus dem 18. Jahrhundert.

Seine Dissertation über den Romancier Henry James wird Nick nie vollenden. Umso engagierter lebt er seine Homosexualität aus, auch das mit aufsteigender gesellschaftlicher Tendenz. Nach einer intensiven Liebschaft mit dem schwarzen Sozialarbeiter Leo, wird Nick der Geliebte eines Multimillionärs, der ihm neben Koks und Sportwagen das Projekt einer stilvollen Kunstzeitschrift finanziert.

So vergehen vier hektische, spannende Jahre, doch dann zerbricht der Traum vom schönen Luxusleben, Aids taucht auf, und hinter der konservativen Fassade der Fedden-Villa bricht ein Skandal aus, der Nick schockartig klarmacht, dass die Reichen dem Emporkömmling niemals verzeihen, wenn er ihre Regeln missachtet ...

In seinem vierten Roman entfaltet Alan Hollinghurst ein grandioses Gesellschafts- und Sittenpanorama. Wie in den großen englischen Epochenromanen des 19. Jahrhunderts – etwa William Thackerays "Jahrmarkt der Eitelkeiten" - zeichnet Hollinghurst mit dem Aufstieg und Fall seines Helden das Bild einer Zeit, die von der Gier nach Geld, Sex und Macht geprägt ist.

Jedoch verzichtet der Autor fast ganz auf Satire und Ironie. Mit großer Wärme begleitet er Nick Guest auf seinem fatalen Weg, wobei der erzählerische Ton und eine äußerst feine Psychologie nicht von ungefähr an Henry James‘ elegante Gesellschaftsromane erinnern – Nicks niemals vollendete Dissertation behandelt den Stil von Henry James.

"Die Schönheitslinie" bedeutete für Alan Hollinghurst, Jg. 1954, den endgültigen Durchbruch als einer der besten Gegenwartsautoren Großbritanniens. Der Booker-Preis 2004 krönte sein schon zuvor regelmäßig mit Preisen bedachtes Werk: "Selten ist die Suche nach Liebe, Sex und Schönheit so exquisit in Romanform gegossen worden", lautete die Begründung der Booker-Jury.

Alan Hollinghurst,
Die Schönheitslinie,

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Stegers,
Verlag Karl Blessing, München, 640 Seiten, € 12,90.