Aufstieg und Fall des Westens

Sechs Faktoren macht der Historiker Niall Ferguson für den Aufstieg des Westens zur Weltmacht verantwortlich: Wettbewerb, Wissenschaft, Eigentum, Medizin, Konsum und Arbeit. Das Ende der westlichen Vorherrschaft hat nach Fergusons These damit zu tun, dass auch andere Kulturen diese Instrumente nutzen.
Ob der Westen dem Untergang geweiht ist, wenn die Chinesen in einigen Jahren zur führenden Weltmacht aufgestiegen sein werden, hängt weniger an den Asiaten als an uns selbst.

Dies ist die Geschichte vom unaufhaltsamen Aufstieg des Abendlandes und dem Versinken der chinesischen Hochkultur im Dämmerschlaf der Jahrhunderte. Es ist gleichzeitig die Geschichte des rasanten Wiedererstarkens Chinas und des relativen Verfalls der westlichen Gesellschaft. Niall Ferguson macht daraus eine große Erzählung und ein intellektuelles Ereignis.

Der renommierte Historiker spürt der Frage nach, wie es dazu kam, dass "einige kleine Staaten am Westrand der eurasischen Landmasse um das Jahr 1500 begannen, ihren Einfluss auf die übrige Welt rasch zu vergrößern und sich eine Vormachtstellung gegenüber den bevölkerungsreicheren und in vielerlei Hinsicht höher entwickelten Gesellschaften Ostasiens zu sichern." Die historische Analyse soll klären, ob wir tatsächlich gerade Zeugen des Endes der westlichen Vormachtstellung und eines heraufziehenden Zeitalters des Ostens sind.

Der Untergang des selbst ernannten Reiches der Mitte begann mit dem Tod des Ming-Kaisers Yongle im Jahr 1424. Admiral Zheng He, der mit seiner Flotte von mehr als 300 riesigen hochseetüchtigen Dschunken im Jahr 1416 an Afrikas Ostküste gelandet war, musste seine Entdeckungstouren einstellen. Ab dem Jahr 1500 wurde die Seefahrt sogar unter Todesstrafe gestellt. Ihr Schicksal steht exemplarisch für Abschottung des Landes. Für eine komplexe Gesellschaft wie die chinesische sei sie fatal gewesen, schreibt Ferguson. Anders die europäischen Monarchien des 16. und 17. Jahrhunderts: Sie förderten Handel, Eroberung und Kolonisierung, um im Wettbewerb mit anderen Königreichen nicht zurückzufallen. Die politische Zersplitterung trieb sie an.

Neben dem Wettbewerb identifiziert der 46-Jährige fünf weitere Bereiche und mit ihnen verbundene Ideen, die in den vergangenen 500 Jahren die weltweite Überlegenheit des Westens begründeten: Wissenschaft, Eigentum, Medizin, Konsum und Arbeit. In den vergangenen drei Jahrzehnten hätten nun die Chinesen den Anschluss an die Weltspitze vor allem deshalb gefunden, weil sie sich aus diesem Instrumentenkasten virtuos zum eigenen Vorteil bedienen. Beschleunigt werden der Aufstieg Chinas und der Niedergang des Westens jetzt durch die Finanzkrise des Westens.

Fergusons Analyse des ökonomischen Desasters ist ebenso einfach wie einleuchtend:

"Die Finanzkrise, die im Jahr 2007 ausbrach, deutet auf eine systemische Funktionsstörung der Konsumgesellschaft hin, die sich auf die Kauftherapie auf Pump stützt."

Seine Schlussfolgerung daraus muss man nicht teilen: Die weltweiten Konjunkturprogramme haben seiner Meinung nach zwar kurzfristig einen noch größeren Absturz als ohnehin verhindert. Doch befänden sich die Industrieländer jetzt in einer "Katerphase, die allen übermäßigen Reizen zu folgen pflegt."

Ferguson hat seit Ausbruch der Finanzkrise gegen eine Ankurbelung der Wirtschaft durch den Staat polemisiert. Für ihn wiegen die langfristigen Folgen steigender öffentlicher Verschuldung – Inflation vor allem – schwerer als kurzfristige Entlastungen. Wer so argumentiert, unterschätzt die Wucht der Krise und die Folgen für die kleinen Leute.

Ferguson ist überzeugt, dass wir gegenwärtig das Ende der 500-jährigen westlichen Vorherrschaft erleben. Dennoch scheinen wir von einem "Kampf der Kulturen" im Sinne Samuel Huntingtons weit entfernt zu sein: Die entscheidende Frage sei nicht, ob die chinesische und die westliche Zivilisation "gewaltsam aneinander geraten werden, sondern ob die schwächere am Ende vollständig untergehen wird." Gut möglich also, dass die tatsächlichen Bedrohungen gar nicht der Aufstieg Chinas oder der Klimawandel sind, sondern "unser eigener verlorener Glaube an die Zivilisation, die wir von unseren Vorfahren geerbt haben."


Besprochen von Uli Müller

Niall Ferguson: Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen
Aus dem Englischen von Michael Bayer und Stephan Gebauer
Propyläen, Berlin 2011
560 Seiten. 24,99 Euro
Mehr zum Thema