Aufstieg und Fall des Arztes Pontus Revinge
Nach ihrer Novelle "Hundeherz" legt die schwedische Schriftstellerin Kerstin Ekman nun einen "großen" Roman vor: Ein Arzt hat gemordet und ist unfähig, Schuld darüber zu empfinden. Seinem Tagebuch vertraut er an, wie es dazu kam.
Der schwedische Arzt Pontus Revinge schaut im Jahr 1919 auf sein Leben zurück. Die letzten dreizehn Jahre erscheinen ihm dabei als das geistige und seelische Zentrum, denn er ist davon überzeugt, dass sich nun nichts mehr ereignen wird.
Seine Erinnerungsarbeit basiert auf einem Tagebuch, das er 1906 zu schreiben begonnen hatte. Selbstverständlich, so wird gleich auf der ersten Seite betont, wähle er genau aus, was erzählt werden soll. Durch diese Auswahl ergibt sich, dass die Ereignisse nicht chronologisch wiedergegeben werden, sondern von den Erregungen gesteuert sind, die den Ich-Erzähler bei der Re-Lektüre seines Lebens erfassen. Revinge wird so zum idealen Leser.
Es sind zwei Handlungsstränge, um die es in den Tagebuchaufzeichnungen geht.
Zum einen berichtet der Erzähler von seinen seltsamen Begegnungen mit dem Schriftsteller Hjalmar Söderberg. Er hat seine Bücher "Verirrungen" (1895) und "Martin Bircks Jugend" (1901) gelesen und ist voller Bewunderung. Nun lüftet Revinge ein Geheimnis: für Söderbergs Bestseller, den Roman "Doktor Glas", der bei seinem Erscheinen 1905 einen großen Skandal hervorrief, habe er Pate gestanden. Der Mediziner habe dem Literaten erklärt, wie man tötet, ohne Spuren zu hinterlassen.
Zum anderen erfahren wir, dass Revinge als junger, mittelloser Arzt in Stockholm dazu verdammt ist, das Elend der Prostituierten und Ärmsten zu lindern. Ekel überkommt ihn, wenn er die Wunden der Huren versorgt und den Gestank der Ungewaschenen einatmet. Er beschließt, seine Lebenssituation zu verändern, denn – so sein Motto – "Leben ist Handlung" und Revinge will besser leben.
Er wird Assistenzarzt in der Praxis eines gewissen Dr. Johannes Skade. Allmählich nimmt er Platz in einem Leben, das ihm Wohlstand und Anerkennung beschert. Bis ihn eines Tages der Wunsch überkommt, den fettleibigen und ohnehin herzkranken Skade mit Zyankali umzubringen. An diesem Punkt berühren sich die beiden Handlungsebenen. Sowohl Söderbergs "Doktor Glas" als auch Revinge werden zu Mördern, doch nach der Tat fühlen sie sich nicht schuldig. "Ich weiß nicht einmal", so Revinge, "ob das, was geschah, wert ist, Mord genannt zu werden."
Kerstin Ekman begibt sich mit ihrer Geschichte eines Mörders in ein raffiniertes Spiegelkabinett, in dem mit jedem Detail eine neue Sicht auf das Wechselspiel von Authentizität und Fiktion geworfen wird. Immer wieder entziehen sich die Figuren ihrer Verantwortung. Ihr Roman handelt vom Aufstieg und Fall des Arztes Pontus Revinge, vom Aufbruch ins wissenschaftliche Zeitalter, vom Krieg als der großen Katastrophe sowie vom Tod als Erlöserfigur und ewigen Rivalen. Zugleich blickt sie mit Hjalmar Söderbergs Bekenntnisbuch "Doktor Glas" auf die Anfänge modernen schwedischen Erzählens zurück und fragt danach, ob es eine Moral in der Literatur geben kann. Ihr klug konstruierter Roman ist das grandiose Bekenntnis einer Schriftstellerin zum Schreiben als Passion.
Besprochen von Carola Wiemers
Kerstin Ekman: Tagebuch eines Mörders
Roman, aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder
Piper Verlag, München 2011,
245 Seiten, 17,95 Euro
Seine Erinnerungsarbeit basiert auf einem Tagebuch, das er 1906 zu schreiben begonnen hatte. Selbstverständlich, so wird gleich auf der ersten Seite betont, wähle er genau aus, was erzählt werden soll. Durch diese Auswahl ergibt sich, dass die Ereignisse nicht chronologisch wiedergegeben werden, sondern von den Erregungen gesteuert sind, die den Ich-Erzähler bei der Re-Lektüre seines Lebens erfassen. Revinge wird so zum idealen Leser.
Es sind zwei Handlungsstränge, um die es in den Tagebuchaufzeichnungen geht.
Zum einen berichtet der Erzähler von seinen seltsamen Begegnungen mit dem Schriftsteller Hjalmar Söderberg. Er hat seine Bücher "Verirrungen" (1895) und "Martin Bircks Jugend" (1901) gelesen und ist voller Bewunderung. Nun lüftet Revinge ein Geheimnis: für Söderbergs Bestseller, den Roman "Doktor Glas", der bei seinem Erscheinen 1905 einen großen Skandal hervorrief, habe er Pate gestanden. Der Mediziner habe dem Literaten erklärt, wie man tötet, ohne Spuren zu hinterlassen.
Zum anderen erfahren wir, dass Revinge als junger, mittelloser Arzt in Stockholm dazu verdammt ist, das Elend der Prostituierten und Ärmsten zu lindern. Ekel überkommt ihn, wenn er die Wunden der Huren versorgt und den Gestank der Ungewaschenen einatmet. Er beschließt, seine Lebenssituation zu verändern, denn – so sein Motto – "Leben ist Handlung" und Revinge will besser leben.
Er wird Assistenzarzt in der Praxis eines gewissen Dr. Johannes Skade. Allmählich nimmt er Platz in einem Leben, das ihm Wohlstand und Anerkennung beschert. Bis ihn eines Tages der Wunsch überkommt, den fettleibigen und ohnehin herzkranken Skade mit Zyankali umzubringen. An diesem Punkt berühren sich die beiden Handlungsebenen. Sowohl Söderbergs "Doktor Glas" als auch Revinge werden zu Mördern, doch nach der Tat fühlen sie sich nicht schuldig. "Ich weiß nicht einmal", so Revinge, "ob das, was geschah, wert ist, Mord genannt zu werden."
Kerstin Ekman begibt sich mit ihrer Geschichte eines Mörders in ein raffiniertes Spiegelkabinett, in dem mit jedem Detail eine neue Sicht auf das Wechselspiel von Authentizität und Fiktion geworfen wird. Immer wieder entziehen sich die Figuren ihrer Verantwortung. Ihr Roman handelt vom Aufstieg und Fall des Arztes Pontus Revinge, vom Aufbruch ins wissenschaftliche Zeitalter, vom Krieg als der großen Katastrophe sowie vom Tod als Erlöserfigur und ewigen Rivalen. Zugleich blickt sie mit Hjalmar Söderbergs Bekenntnisbuch "Doktor Glas" auf die Anfänge modernen schwedischen Erzählens zurück und fragt danach, ob es eine Moral in der Literatur geben kann. Ihr klug konstruierter Roman ist das grandiose Bekenntnis einer Schriftstellerin zum Schreiben als Passion.
Besprochen von Carola Wiemers
Kerstin Ekman: Tagebuch eines Mörders
Roman, aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder
Piper Verlag, München 2011,
245 Seiten, 17,95 Euro