Aufschrei: Mord am Intellekt!

Von Christian Schüle · 14.10.2013
Im Furor des Verschwindens ist in der gegenwärtigen Epoche des totalen Entertainments auch etwas sehr Deutsches verloren gegangen: intellektuelle Tiefgründigkeit. Geblieben ist nur die flächendeckende Flachheit, meint Christian Schüle.
Weit davon entfernt, reaktionären Kulturpessimismus betreiben zu wollen, muss an dieser Stelle dennoch mit größtem Bedauern konstatiert werden: Die Austreibung des Niveaus im Namen der Unterhaltung, die Verbannung der Intellektualität im Auftrag marktgängiger Simplifizierung, die Vernichtung des Anspruchsvollen zugunsten süffiger Konformität hat, aufs Ganze betrachtet, zu einer schamlosen Trivialisierung des öffentlichen Geistes geführt.

Konstruktive, komplexe, langfristig angelegte Debatten über ethische, moralische und soziale Grundlagen, über Wertewandlungen, Gesellschaftsverträge, Visionen und Revisionen des bundesdeutschen Selbstverständnisses finden im öffentlichen Raum nicht mehr statt.

Diskurse werden als "elitär" diskreditiert, dialektische Sophistik ist geradezu ein soziales Ausschlusskriterium, und die Kunst der Rhetorik scheint weitestgehend verkümmert. Stattdessen zwitschert und schwätzt, bramarbarsiert und schwadroniert es in höchster Erregung, während Nachdenklichkeit als Bedenkenträgerei denunziert und die Forderung nach hohem Stil wie hoher Qualität unter Arroganzverdacht gestellt wird.

Geblieben ist flächendeckende Flachheit von Lifestyle, Sexyness, Coolness, die wohlfeile Mixtur aus Psycho-Wellness, Promi-Glamour, Star-Kult, Heroen-Hype, Voyeurismus und primitiver Niedertracht. Kurzum: Festzustellen ist die grassierende Ent-Intellektualisierung der Gegenwart; mehr noch: ein Zeitgeist des Anti-Intellektuellen. Selbst Günter Grass ist verstummt. Und Jürgen Habermas gilt dieser Tage als Exot aus sehr fernen Zeiten.

Zweifelsohne, Intellektualität als solche ist mühsam, unbequem, zeitaufwendig. Angewandte Intellektualität hieße ja, das Verhältnis von Grund und Folge, Ursache und Wirkung innerhalb eines Kontextes stets mitzudenken. Es hieße, Thesen durch Begründungen zu untermauern und Zusammenhänge aufzudecken. Es hieße: Geschichte zu wissen und Strukturen und Muster zu erkennen.

Kultivierung der Abgründe
Statt Gründen aber werden Abgründe kultiviert: Die Bücher-Beststellerlisten strotzen vor Krimis, im privaten wie im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wird geblutet, gemordet und getötet, was das Zeug hält. 50 Morde die Woche, 50 Tote, 50 Kommissare, 50 mal die Frage: "Wo waren Sie gestern zwischen dann und dann?" Schlimmer noch: Im Circus Maximus des Politikbetriebes ersetzen Soundbites durchdachte Aussagen und Statements Zusammenhänge; die Berufspolitik reduziert sich selbst konsequent auf die Frage, welche Partei welcher Gruppierung welchen Beitrag um wie viel erhöht beziehungsweise senkt, als sei das Geschäft des Politischen statt diskursiver Selbstverständigung der Gesellschaft nichts weiter als eine futterneidische Angelegenheit von Be- und Entlastung.

Deutschlands hohe Literatur wird gleichgesetzt mit handwerklich versierten, harmlosen Unterhaltungsschriftstellern; journalistische Qualität geht peu à peu insolvent, und die heiß als "Zukunft” beschworenen Onlinemedien erziehen den Nutzer zum Klick ohne jede Vertiefung.

Und waren die führenden Frauenmagazine in den 80er- und selbst 90er-Jahren noch politisch, frauenpolitisch, ja gesellschaftspolitisch, sind sie seit etwa einem Jahrzehnt nur noch dämlich.

So kristallisiert sich das Paradigma unserer Tage heraus: Konsumtrip ersetzt Aufklärung, Stilkritik Kritik, Kenntnis Erkenntnis, Klärung Erklärung und Korrelation Kausalität. Den Rest erledigt die Marktforschung. Entstanden ist ein Betriebssystem der allgemeinen Banalität.

Bange wird es einem also nicht allein vor Eurokrise, Altersarmut, demografischem sowie Klimawandel, sondern vor allem vor der inneren Aushöhlung: Wenn Fußballer-Statements zu Weisheiten verklärt und Fußballspiele zu abendfüllenden National-Epen werden, wenn in der öffentlichen Wahrnehmung Models, Moderatoren und Marketingexperten zu nichts weiter als Hype und Hyperventilation führen: dann, Deutschland, gute Nacht!

Eine Gesellschaft hat nicht nur die Fürsorgepflicht ihrer Wohlfahrt gegenüber, nicht nur gegenüber ihrer Wirtschaftskraft, sondern in Zeiten allgemeiner Verfußballerung auch gegenüber ihrer Reflektions-Qualität. Kein Wunder, dass es wahre Partizipation an der Gestaltung des Gemeinwesens nicht gibt, wenn der Bürger schon seine intellektuelle Entmündigung so klaglos hinnimmt – da sich doch, notabene!, rein gar nichts von selbst versteht!

Christian Schüle, 43, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ZEIT und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta), den Essay "Vom Ich zum Wir" (Piper) und gerade eben den Essay "Wie wir sterben lernen" (Pattloch Verlag).
Christian Schüle
Christian Schüle© Privat