Aufruhr der Elemente

13.11.2009
Was einst eine leidenschaftliche Beziehung war, kommt in den Gegenwartsromanen fast nicht mehr vor: der Held und sein Wetter. Angesichts der tragenden Rolle, die blaue Himmel, Stürme und die Sintflut jahrtausendelang in der Literatur gespielt haben, ist das ein Verlust.
Der mag zwar kaum ins Gewicht fallen im Vergleich zu den Problemen, die uns der neuzeitliche Klimawandel bereitet. Aber schade ist es doch, wenn man die theatralischen Auftritte bedenkt, in denen das Wetter seit jeher - von Odysseus bis zum "Mann ohne Eigenschaften" - zuverlässig Gemütszustände spiegelte oder als Vorbote dramatischer Entwicklungen dem Schicksal auf die Sprünge half.

Umso überraschender, wenn heutzutage ein Roman, der eine kleinbürgerliche Familienhölle der Gegenwart ausmalt, mit dem unheilverkündenden Aufruhr der Elemente einsetzt. Wie Robert Musil, der seinem Helden zum Auftakt den selten schönen Glanz eines sprichwörtlichen "Kaiserwetters" gönnt, wählt auch Peter Henning eine meteorologische Ausnahmesituation. Bei ihm fegt ein Jahrhundertorkan über das Land, legt Bäume und Häuser flach, schickt sintflutartige Regenfälle.

Das Epizentrum der Erschütterungen verlegt er ins südhessische Hanau, in die kleine Welt der Jansens. Es ist eine Handvoll Menschen, die sich um Johanna schart, die 78-jährige Mutter, die kurz vor dem Eintritt ins Altersheim steht und deren Lieblingswort "Harmonie" heißt, während sie von ihren Kindern als tyrannische Egozentrikerin beschrieben wird. An ihrer Seite: ein polnischer Geliebter, ein Herumtreiber und Hasardeur, der - um Spielschulden zu entgehen - seinen Selbstmord vortäuscht.

Da ist der Sohn Helmut, ein pensionierter Tennislehrer, in dessen Leben es keinen Platz für andere gibt, schon gar nicht für einen Sohn, den er frühzeitig abgeschoben hat: Ben, der sich mit journalistischen Gelegenheitsarbeiten durchschlägt und von dem Gefühl beherrscht ist, stets unter seinen Möglichkeiten zu bleiben, und da ist Tochter Ulrike, die sich wie in ein Gefängnis in die glücklose Ehe mit einem karrieristischen Saubermann gerettet hat, der sie an jeder Ecke betrügt.

Alles in allem ist es ein ziemlich trostloses Personal, das diesen Roman bevölkert, und ein wenig sympathisches dazu. Doch es ist erstaunlich, wie Peter Henning nach und nach aus diesem sattsam bekannten Milieu, aus den kleinbürgerlichen Gemeinheiten, Rechthabereien und selbstgefälligen Winkelzügen etwas herausschält, das es mit den Lebenszumutungen alttestamentarischen Zuschnitts durchaus aufnehmen kann.

Während er die Szenen in schneller Abfolge, Filmausschnitten ähnlich, aneinanderfügt, zeigt er in geradezu erbarmungslosem Realismus seine Figuren, wenn sie, abgekapselt voneinander, ohne Richtung durch ihr Leben taumeln und doch hoffnungslos in ihre familiären Bande verstrickt sind. Erst als das Schicksal in Gestalt von Jobverlust, Liebesversagen oder tödlicher Krankheit zuschlägt, erwächst für sie die Chance zur Umkehr. Überzeugend, wie Henning die Angst als produktive Kraft zu profilieren vermag, indem er sie aus den verborgensten Seelenwinkeln zutage treten lässt, eine Angst, die hilflos mit skrupellosem Aufstiegswillen, mit Großsprecherei, Jagd nach Geld, Status und einem schönen Körper kaschiert wird. Damit gewinnen diese Versager, Hypochonder, Ehebrecher und Betrüger fast liebenswürdige Züge.

Auch wenn dem Roman eine Kürzung gut getan hätte – allzu oft verzettelt er sich in der kleinteiligen Schilderung von Alltäglichem, in der Häufung von gesuchten Vergleichen – ist er doch eine ergreifend einfühlsame Studie darüber, was passiert, wenn in das Leben die Elemente wie eine Naturgewalt einschlagen. So gesehen ist die Rückkehr des Wetters in den deutschen Gegenwartsroman durchaus zu begrüßen.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Peter Henning: Die Ängstlichen
Aufbau-Verlag, Berlin 2009
498 Seiten, 22,95 Euro