Aufrüstung im Mittelmeer

"Krieg gegen Menschen auf Schlauchbooten"

23:06 Minuten
Migranten aus Afrika kommen in einem Schlauchboot am Strand des Dorfes Skala Sikamias auf Lesbos aus der Türkei an.
"Man erzeugt ja die Seenot der Menschen", sagt der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt über die Push-Backs im Mittelmeer. © picture alliance / dpa / Angelos Tzortzinis
Erik Marquardt im Gespräch mit Isabella Kolar · 09.06.2021
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Griechenland rüstet mithilfe der EU an den Außengrenzen massiv auf. Auch laute Schallkanonen sollen dort zum Einsatz kommen. Bei dem Versuch, Flüchtlinge im Mittelmeer zurückzudrängen, sollen 2000 Menschen gestorben sein.
Griechenland will an seiner Grenze neben fünf Meter hohen Zäunen, Spezialkameras und Lügendetektoren auch bald Schallkanonen zur Abschreckung gegen Geflüchtete einsetzen.

Schallkanonen zur Abschreckung

Erik Marquardt, Europaparlamentarier von Bündnis 90/Die Grünen hält im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur den Einsatz dieser Kanonen, die ein hochfrequentes Geräusch senden und so laut werden können wie ein Düsentriebwerk, für durchaus realistisch.
Man erlebe seit etwas über einem Jahr die Situation, dass Rechtsstaatlichkeit und die Frage, was man den Menschen antun dürfe, kaum noch eine Rolle spiele, sondern es nur noch darum gehe illegale, irreguläre Migration abzuwehren, so Marquardt.
Ein Polizist bedient eine Schallkanone während einer Patrouille entlang der griechisch-türkischen Grenze. 
Migration an der EU-Grenze - Griechenland will jetzt auch sogenannte Schallkanonen einsetzen, um abzuschrecken.© Giannis Papanikos/AP/dpa
Und das "obwohl es eigentlich Regeln gibt, die jetzt sicherstellen sollen, dass alle Menschen Zugang zu Asylverfahren haben".

Viele werden mit Gewalt und Erniedrigung abgewiesen

Betroffen sind beispielsweise Geflüchtete, die versuchen von Libyen oder der Türkei aus über Griechenland und Italien in die EU zu gelangen.
Man spreche von Leuten, die einen Asylantrag stellen wollten, sagt der Grünen-Politiker, der sich schon seit Jahren mit Menschenrechtsverletzungen an der EU-Außengrenze beschäftigt. Dabei gehe es erst mal nicht darum, ob die Menschen Anspruch auf Asyl hätten oder nicht, sondern es gehe darum, ob man rechtsstaatliche Verhältnisse an der EU-Außengrenze habe:
"Und momentan werden eben sehr viele Leute abgewiesen auch mit Gewalt, auch mit erniedrigender Behandlung und sie haben keinen Zugang zu rechtsstaatlichen Asylverfahren. Wie ja auch mit diesen Soundkanonen ziemlich klar gesagt wird."

30.356 Geflüchtete aus Ländern wie Tunesien, der Elfenbeinküste, Syrien oder Afghanistan kamen im Jahr 2021 bis zum 7. Juni in Italien, Griechenland, Spanien, Zypern und Malta an. 784 sind tot oder vermisst gemeldet, berichtet der UNHCR.

Ziel europäischer Asylpolitik sei, jedes Jahr weniger Asylanträge als im Vorjahr in der Statistik zu haben. Dabei werde weder auf Werte oder die Würde der Menschen noch auf das Recht geachtet, sagt der Europaparlamentarier: "Man schaut einfach nur, wie können möglichst wenig Menschen Zugang zu Rechtsstaatlichkeit in Europa bekommen."

Asylrecht – eine Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg

Während weltweit die Zahl der Geflüchteten auf Höchststände steige, sinke die Zahl der Ankommenden in Europa demgegenüber stark.
"Eigentlich haben wir in Europa, auch wegen der schlimmen Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunders, ganz klar auch selbst für das internationale Asylrecht gekämpft", sagt Erik Marquardt.
"Dass eben Menschen nicht mehr zurückgewiesen werden können wie im Zweiten Weltkrieg, wo die Jüdinnen und Juden nicht mehr aus Deutschland fliehen konnten, obwohl sie eigentlich die Möglichkeit dazu hatten, aber dann abgewiesen wurden. Daraus ist das internationale Asylrecht entstanden."
Dutzende weiße Zelte stehen direkt am Meer, in einer runden flachen Bucht. Menschen stehen im Wasser.
Das Lager Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos: Die Push-Backs sollen verhindern, dass die Geflüchteten es hierher schaffen.© Deutschlandradio / Anastasia Papanikolaou
Und jetzt - so Marquardt - müsse man beobachten, wie das alles völlig egal sei. Es existiere eine sehr populistische Debatte, in der behauptet werde, je mehr Grenzschutz es an der Grenze gebe, desto weniger Geflüchtete kämen an.

"Es ist nicht der Job der Grenzer, Geflüchtete abzuwehren"

Es sei aber nicht die Aufgabe der Grenzkontrollen, Geflüchtete abzuwehren, sondern einfach Ordnung sicherzustellen sowie zu gewährleisten, dass keine Drogen und Waffen geschmuggelt würden.
"Sie müssen eigentlich auch aktiv dafür sorgen, dass der Zugang zu Asylverfahren gewährleistet wird und dass Menschenrechte geschützt werden. Sie tun aber gerade das Gegenteil", kritisiert Erik Marquardt. Unter Bezug auf den britischen "Guardian" stellt er fest, dass es über 40.000 Push-Back Fälle gibt, die man nachweisen kann, und dass dabei in der Folge 2000 Menschen zu Tode gekommen sind.
Erik Marquardt spricht für seine Kandidatur auf einen Listenplatz für die Europawahl.
„Man hat das Gefühl, man ist im Krieg gegen Menschen auf Schlauchbooten“ – der grüne Europaparlamentarier Erik Marquardt.© picture alliance / dpa / Jan Woitas
Erik Marquardt ist außerdem Mitglied in einer im Februar gegründeten Untersuchungsgruppe des Europaparlaments, die die umstrittene und viel diskutierte Rolle von Frontex, der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, bei den Push-Backs, also der illegalen Zurückdrängung von Migrantenbooten im Mittelmeer, untersucht.
"Wir werden schon in ungefähr einem Monat erst einmal einen Bericht schreiben, in dem wir darlegen, was konnte denn dort eigentlich nachgewiesen werden, welche Informationen gibt es", sagt er.
"Und in der Folge wollen wir dann natürlich überlegen, wie man dazu beitragen kann, dass Menschenrechtsverletzungen nicht so einfach zu verschleiern sind, wie das momentan der Fall ist."

Frontex ermöglicht Menschenrechtsverletzungen

Auch wenn die Rolle von Frontex in Griechenland – im Unterschied zu Libyen – eher eine indirekte sei, so Marquardt, so sei es die Agentur, die durch ihr Verhalten ermögliche, dass es zu Menschenrechtsverletzungen komme.
Wenn sie zum Beispiel die griechischen Grenzbeamten auf ein Schlauchboot in Seenot aufmerksam mache und diese dann den Push-Back durchführten. Dieses Zusammenspiel mache es schwierig, die Verantwortlichen ausfindig zu machen und Konsequenzen zu ziehen, umso mehr als Griechenland alles abstreite.
Zu den bekannt gewordenen Fällen, bei denen die griechische Küstenwache im Rahmen ihrer Push-Backs die Motoren der Flüchtlingsboote zerstört oder die Geflüchteten auf aufblasbaren Rettungsinseln aussetzt, sagt Erik Marquardt:
"Man erzeugt ja die Seenot der Menschen, wenn man sie manövrierunfähig auf dem Wasser zurücklässt. Man hat dort Videos, wie die Kinder schreien, Warnschüsse abgegeben werden. Man hat also wirklich das Gefühl, man ist im Krieg gegen Menschen auf Schlauchbooten, die versuchen, ihre schreienden Kinder zu beruhigen."
Eine deutsche Frontex-Beamtin und ein griechischer Beamter suchen bei Mytilini auf der griechischen Insel Lesbos das Meer nach Flüchtlingsbooten ab. 
Eine deutsche Frontex-Beamtin und ein griechischer Beamter suchen bei Mytilini auf der griechischen Insel Lesbos das Meer nach Flüchtlingsbooten ab. © imago / Markus heine
Spreche man dagegen über das zentrale Mittelmeer, also die Fluchtroute von Libyen nach Malta und Italien, dann führe Frontex dort Aufklärungsflüge durch und habe teilweise sogar direkten Kontakt zu libyschen Grenzbeamten, wenn es ein Boot in Seenot sichte.
Die libysche Küstenwache hole die Leute dann zurück in ihre Folterlager, obwohl man Menschen nicht nach Libyen zurückbringen dürfe. Denn: "Das ist in Europa verboten."

"Eine Kultur des Lügens"

Man wisse in der Frontex-Untersuchungsgruppe auch, so Marquardt, dass die Mitgliedsstaaten eine größere Rolle bei den Menschenrechtsverletzungen spielen, welche dazu beitrage, dass diese schwer handhabbar seien:
"Wir bemerken auch, dass sowohl im Frontex-Verwaltungsrat, in dem die Mitgliedsstaaten der EU sitzen, als auch auf politischer Ebene der EU-Mitgliedsstaaten eine Kultur des Lügens gedeckt wird", beklagt der EU-Parlamentarier.
"Dass man also eine Komplizenschaft hat zwischen 27 EU-Staaten, der EU-Kommission, Frontex und den Grenzbehörden, weil man momentan offenbar bereit ist, solche Maßnahmen durchzuführen, Menschenrechte zu verletzen, auch Menschen zu verletzen und ihren Tod in Kauf zu nehmen, um die Migrationszahlen so zu senken, damit es im Prinzip kein Thema mehr ist, Asyl in Europa beantragen zu können."
(ik)
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