Aufklärung über den östlichen Nachbarn
Kürzlich ist in Frankreich ein "Dictionnaire du monde germanique" erschienen, ein Wörterbuch der germanischen Welt; gemeint sind damit die deutschsprachigen Territorien im Laufe ihrer Geschichte. 1300 Seiten, 350 Autoren, mehr als 800 Stichwörter und über 2 Kilogramm schwer: dieses Lexikon ist ein Monument, das sich mit allen wichtigen Erscheinungen deutscher Geschichte, Kultur, Philosophie, Wirtschaft, Politik usw. auseinandersetzt - ein imposantes und im wahrsten Sinne gewichtiges Buch.
Es ist ein Unternehmen, das einerseits dem französischen Esprit alle Ehre macht - andererseits dem deutschen Geist zu seinem Recht verhilft; und es ist kein Zufall, dass beiden Begriffen, Esprit und Geist, ein Artikel gewidmet ist. Natürlich wird hier - wie in allen Nachschlagewerken - eine lange Reihe wichtiger Persönlichkeiten vorgestellt, von Konrad Adenauer bis Stefan Zweig, von Johann Sebastian Bach bis Arthur Schopenhauer.
Aber das "Dictionnaire" ist keine trockene Enzyklopädie, sondern in erster Linie eine eigenwillige, aber ganz und gar plausible Versammlung von Stichwörtern aus der deutschsprachigen Welt - wie Abitur, Bildungsbürgertum, Struwwelpeter, deutscher Michel oder Gesangsbuch; und die werden geistreich erklärt. Im Artikel "Empfindsamkeit" zum Beispiel wird darauf hingewiesen, dass diese auch in England und Frankreich existiert habe, ...
" ... aber die Erhöhung des Gefühls findet in Deutschland einen besonders fruchtbaren Boden. Die Empfindsamkeit ermöglicht es nämlich, den Wert und das Vorrecht des Individuums gegenüber der kalten Strenge sozialer Institutionen zu unterstreichen."
Schon in diesem Fall zeigt sich, wie offen und objektiv über typische deutsche Angelegenheiten geschrieben wird. Noch deutlicher wird es bei - uns eher suspekten - Begriffen wie "Auslandsdeutschtum" oder "Volkslied" oder auch daran, dass die NS-Zeit nicht über Gebühr behandelt wird: Die Süddeutsche Zeitung hat im Register nachgezählt, dass der Name Hitler, 66 Mal genannt, auf einem Mittelplatz liegt, Sieger ist standesgemäß Goethe mit 127 Erwähnungen.
Den Charme dieses Wörterbuchs machen die kleinen scharfsinnigen Beiträge aus, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und gleichzeitig einen essayistischen Charakter haben. Unterm Stichwort "Philistin" heißt es:
"Der Philister ist das Abbild nicht nur der Zerrissenheit und der politischen Verspätung des Landes, sondern tiefer noch des Widerspruchs zwischen den durch die Aufklärung erzeugten Sehnsüchten der intellektuellen Elite und den objektiven Möglichkeiten ihrer Verwirklichung."
Es ist mehr als pedantisch, bei solchen Projekten fehlende Einträge zu suchen, schade trotzdem, dass Begriffe wie "Gemütlichkeit" oder "Humor" vergessen wurden - Loriot fehlt übrigens auch, aber dafür ist Wilhelm Busch dabei. Und dann freut man sich über Stichwörter, die unserer geschichtslosen Zeit abhanden gekommen sind - wer spricht denn noch über die preußisch-österreichische Schlacht bei Sadowa und Königgrätz 1866?
Oder man stolpert über "Oberhausen". Oberhausen? Dahinter verbirgt sich ein Beitrag über den jungen deutschen Film. Man findet auch etwas über den Wald, die Trümmerliteratur oder das Streichquartett.
Dass Deutschland bei unsern Nachbarn einen besonderen Stellenwert hat, sieht man nicht zuletzt daran, dass das Lexikon in Frankreich einzig in seiner Art ist und trotz seines stolzen Preises bis heute in 3.500 Exemplaren verkauft wurde; jetzt gibt es sogar schon eine Erfolgsausgabe, die "nur" noch 79 Euro kostet.
Elisabeth Décultot, Michel Espagne, Jacques Le Rider (Hrsg.): Dictionnaire du monde germanique
Verlag Bayard, Paris 2007
1312 Seiten. Erfolgsausgabe 79 Euro
Aber das "Dictionnaire" ist keine trockene Enzyklopädie, sondern in erster Linie eine eigenwillige, aber ganz und gar plausible Versammlung von Stichwörtern aus der deutschsprachigen Welt - wie Abitur, Bildungsbürgertum, Struwwelpeter, deutscher Michel oder Gesangsbuch; und die werden geistreich erklärt. Im Artikel "Empfindsamkeit" zum Beispiel wird darauf hingewiesen, dass diese auch in England und Frankreich existiert habe, ...
" ... aber die Erhöhung des Gefühls findet in Deutschland einen besonders fruchtbaren Boden. Die Empfindsamkeit ermöglicht es nämlich, den Wert und das Vorrecht des Individuums gegenüber der kalten Strenge sozialer Institutionen zu unterstreichen."
Schon in diesem Fall zeigt sich, wie offen und objektiv über typische deutsche Angelegenheiten geschrieben wird. Noch deutlicher wird es bei - uns eher suspekten - Begriffen wie "Auslandsdeutschtum" oder "Volkslied" oder auch daran, dass die NS-Zeit nicht über Gebühr behandelt wird: Die Süddeutsche Zeitung hat im Register nachgezählt, dass der Name Hitler, 66 Mal genannt, auf einem Mittelplatz liegt, Sieger ist standesgemäß Goethe mit 127 Erwähnungen.
Den Charme dieses Wörterbuchs machen die kleinen scharfsinnigen Beiträge aus, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und gleichzeitig einen essayistischen Charakter haben. Unterm Stichwort "Philistin" heißt es:
"Der Philister ist das Abbild nicht nur der Zerrissenheit und der politischen Verspätung des Landes, sondern tiefer noch des Widerspruchs zwischen den durch die Aufklärung erzeugten Sehnsüchten der intellektuellen Elite und den objektiven Möglichkeiten ihrer Verwirklichung."
Es ist mehr als pedantisch, bei solchen Projekten fehlende Einträge zu suchen, schade trotzdem, dass Begriffe wie "Gemütlichkeit" oder "Humor" vergessen wurden - Loriot fehlt übrigens auch, aber dafür ist Wilhelm Busch dabei. Und dann freut man sich über Stichwörter, die unserer geschichtslosen Zeit abhanden gekommen sind - wer spricht denn noch über die preußisch-österreichische Schlacht bei Sadowa und Königgrätz 1866?
Oder man stolpert über "Oberhausen". Oberhausen? Dahinter verbirgt sich ein Beitrag über den jungen deutschen Film. Man findet auch etwas über den Wald, die Trümmerliteratur oder das Streichquartett.
Dass Deutschland bei unsern Nachbarn einen besonderen Stellenwert hat, sieht man nicht zuletzt daran, dass das Lexikon in Frankreich einzig in seiner Art ist und trotz seines stolzen Preises bis heute in 3.500 Exemplaren verkauft wurde; jetzt gibt es sogar schon eine Erfolgsausgabe, die "nur" noch 79 Euro kostet.
Elisabeth Décultot, Michel Espagne, Jacques Le Rider (Hrsg.): Dictionnaire du monde germanique
Verlag Bayard, Paris 2007
1312 Seiten. Erfolgsausgabe 79 Euro