Aufklärung im Horrorfilm

Rezensiert von Tobias Rapp · 29.11.2005
In seinem Briefroman "Die salzweißen Augen" versucht der Autor Dietmar Dath seine Theorie darzulegen, warum die in der Tradition der Aufklärung stehenden Kunstwerke der Gegenwart sich genau dort befänden, wo das Feuilleton nur ungerne hinschaut: in der Heavy-Metal-Musik, in der Pornographie und im Splatterfilm.
Es ist ein scheinbar überaltertes Genre, das in diesem Herbst eine erstaunliche Rennaissance erlebt - der Briefroman. Denn obwohl immer weniger Menschen Briefe schreiben und stattdessen E-Mails schicken, finden sich neben Ingo Schulzes Wenderoman "Neue Leben" mit Dietmar Daths "Die salzweißen Augen" gleich zwei erzählerische Briefsammlungen unter den Neuerscheinungen.

Und, was fast noch erstaunlicher ist: weder Schulze noch Dath nutzen diese literarische Gattung, um Nostalgieeffekte zu erzielen. Im Gegenteil, die ganz eigene Qualität beider Bücher besteht in der Art und Weise, wie sie ihren zeitgenössischen Geschichten damit eine adäquate Form geben.

Das erzählerische Stopp & Go, das dem Umstand geschuldet ist, dass zwischen dem Abfassen der Briefe Zeit vergeht, und die sich daraus ergebende Gelegenheit zur Reflexion macht diese Erzählweise reizvoll. Schließlich gibt es keinen allwissenden Erzähler, sondern nur einen Mann am Schreibtisch und in diesem Fall eine Adressatin, an die sich all die Briefe richten.

In "Die salzweißen Augen" ist der Mann am Schreibtisch auf der Flucht, und zwar, wie sich im Laufe der geschickt verschachtelten Geschichte herausstellt, auf der Flucht vor der Adressatin. Nach Amerika hat es ihn verschlagen, und von hier aus versucht er ihr zu erklären, warum er sich im Laufe ihrer langen Bekanntschaft immer so merkwürdig verhalten hat. Warum er sie in der Schule erst ignoriert, dann getriezt und dann wieder ignoriert hat, warum er sich dann lange nicht gemeldet und sie schließlich bei einer Wiedersehensfeier in ihrer Schule erst angesprochen hat und dann davongelaufen ist.

Das wäre nun alles nicht sonderlich aufregend, gäbe es nicht zwischen Erzähler und Autor einige Ähnlichkeit und wäre Dietmar Dath nicht der, der er ist: ehemaliger Chef des Musikmagazins "Spex" und mittlerweile Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", stets geistreicher und kontroverser Essayist und nicht zuletzt manischer Autor - neben all seinen anderen Tätigkeiten hat er in den vergangenen Jahren einen ganzen Stapel Romane geschrieben und Sachbücher über Themen wie Mathematik oder Vorabendserien verfasst und sich damit dem Zeitalter von Pop und Wissenschaft gleichermaßen gewidmet.

In "Die salzweißen Augen" unternimmt Dath den Versuch, für sein Tun und Lassen der vergangenen Jahre eine philosophische Begründung nachzuliefern - die im Untertitel angekündigte Ästhetik der "Drastik und Deutlichkeit". Eine Theorie, mit der er zu belegen versucht, dass die in der Tradition der Aufklärung stehenden Kunstwerke der Gegenwart sich genau dort befänden, wo das Feuilleton nur ungerne hinschaut: in der Heavy Metal Musik, in der Pornographie und im Splatterfilm, im Horrorroman oder im Comic. Hier finde sich die Form, die "das Selbst- und Wunschbild des modernen Menschen annimmt, wenn die sozialen Versprechen der Moderne nicht eingelöst werden".

Dass dies so durchgehend interessant und erhellend ist, liegt nicht nur daran, dass diese Ideen so geschickt mit der Biographie des Erzählers und seiner (man ahnt es schon) unerfüllten Liebe zur Adressatin verbandelt sind. Für Leser, denen der Name Dath bisher gar nichts sagte, sind sie auch deshalb von großer Relevanz, weil der Zusammenhang zwischen Gewalt und ihrer medialen Darstellung bis heute ein so umkämpftes Terrain ist. Immer wieder aufs Neue wird diese Debatte geführt - zuletzt als herauskam, dass die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben hat, gewalttätige Computerspiele bekämpfen zu wollen, weil sie der Verrohung Vorschub leisten würden.


Dietmar Dath: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit
Suhrkamp Verlag, 2005,
220 S., 19,80 Euro