Aufklärung

Ängste essen Seele auf

Von Udo Pollmer · 01.03.2014
Jeden Tag strömen neue Gesundheitsinformationen auf den Bürger ein. Je dramatischer die Warnungen vor Krankheiten, desto größer das Echo der Öffentlichkeit. Die Drohkulissen wirken sich auch auf die Ernährung aus.
Jede medizinische Interessengruppe, die nach Aufmerksamkeit heischt, hält sich neben ihren üblichen Diagnosen noch eine lukrative Volkskrankheit als Drohkulisse, am besten eine "Volkskrankheit Nr.1". Garniert mit dem Hinweis, Rohkost und Joggen schütze davor. Aber wer das nicht schaffe, der müsse sich regelmäßig durchchecken lassen, um dem Tod von der Schippe zu springen.
Da sich die "Volkskrankheiten Nr. 1" zu vermehren scheinen wie die Karnickel, hab ich mich in Sachen Volkskrankheitskunde mal umgehört. Die "Aktion gesunder Rücken", offenbar eine Lobby diverser Interessenverbände, hat erwartungsgemäß Rückenschmerzen auf den 1. Platz gehievt. Womöglich hat sie sich dabei verhoben, denn der Bundesverband deutscher Pressesprecher – also die bezahlte Stimme vieler Herren – sieht die Herzkreislaufleiden an der Spitze.
Auf dem Bundespresseportal hingegen lese ich: "Krebs ist noch immer die Volkskrankheit Nummer eins in Deutschland". Die Deutsche Diabetesstiftung hält dagegen. Dem Diabetes gebühre der 1. Platz auf dem Siegertreppchen.
Jeder hat eine Krankheit im Angebot
Eine ärztliche Fortbildung zur "Volkskrankheit Nummer 1" widmet sich der Osteoporose, eine Auffassung auf die Allergologen aus naheliegenden Gründen allergisch reagieren. Inzwischen legten auch die Zahnärzte einen Zahn zu und verkündeten, nur der Parodontose gebühre die Ehre. Beinah hätte ich‘s vergessen, ein Fachblatt für Pfleger hält die "Demenz" für die Nummer eins. Und bei einem Portal mit dem feinsinnigen Titel "Krampfadern News" ist schon klar, welche Krampf-Botschaft uns da erwartet.
Die Gesundheits-Marktschreier haben noch Herpes, Stress, Lungenleiden, Burnout, Rheuma, Schlafstörungen und Übergewicht im Angebot. Der eine kann über dieses Potpourri nur noch lachen, der andere wird depressiv. Übrigens: Depressionen sind die Volkskrankheit Nr. 1 – das garantiert der Deutsche Psychotherapeutenverband. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Natürlich verfolgen alle nur hehre Ziele: Es bräuchte schrille Kassandrarufe, um die Bevölkerung zu einem "gesunden Lebensstil" zu veranlassen, mehr Rohkost, mehr Joggen, mehr Gesundheitschecks. Das würde die Krankheitsrate senken und damit auch die Kosten – sprich das Einkommen derer, die diese Kampagnen bezahlen. Und genau das kann nicht sein. Was also steckt dahinter?
Die Angst vor Krankheit wird zum Lebensinhalt
Einen wichtigen Hinweis liefert die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Sie hat mit ihrem Forschungsprojekt unter dem vielsagenden Titel "Furchtappellforschung" den Grundstein gelegt. Darin wird festgestellt, dass "Angst … eine wesentliche Bedingung zur Veränderung des Gesundheits- und Risikoverhaltens darstellt". Es genüge nicht, nur den Teufel an die Wand zu malen, es braucht auch einen gottgefälligen Königsweg zur Lösung des Dilemmas – wie Ablasshandel, Pflanzenmargarine oder Darmspiegelungen. So dringt die Branche von hinten durch die Brust ins Auge.
Mit den täglichen Gesundheitsmeldungen wird die Angst vor Krankheit zum Lebensinhalt. Jeder Arzt kennt das Phänomen. Als Medizinstudent diagnostizierte er bei sich selbst eine schwere, eine lebensbedrohliche Erkrankung. Verzweifelt ging er zum Doktor und wurde, als er sein Medizinstudium erwähnte, mit freundlichen Worten hinauskomplimentiert. Als Arzt müsse er schließlich lernen, all die vielen Anzeichen übler Krankheiten nicht ernst zu nehmen und darauf zu vertrauen, dass sein Körper schon weiß was er tut – sonst käme er bei seinem Wissen vor lauter Angst nicht mehr zum Arbeiten. Doch das Publikum ist diesem Effekt der "Aufklärung" hilflos ausgeliefert.
Furchtappelle fruchten umso besser, je mehr Empfehlungen zur gesunden Ernährung auf die Bevölkerung herniederprasseln. Leider lassen sich die meisten Tipps aus biologischen Gründen nicht auf Dauer durchhalten. Wer scheitert, fühlt sich als Versager, empfindet Schuld und die Angst vor Krankheiten steigt bei jeder Mahlzeit. Mahlzeit!
Literatur
Barth J, Bengel J: Prävention durch Angst? Stand der Furchtappellforschung. Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung Band 4, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Köln 1998
Baur S: Die Welt der Hypochonder. Kreuz Verlag, Zürich 1991
Hahn RA: The nocebo phenomenon: concept, evidence, and implications for public health. Preventive Medicine 1997; 26: 607–611
Witthöft M, Rubin GJ: Are media warnings about adverse health effects of modern life self-fulfilling? Journal of Psychosomatic Research 2013; 74: 206-212