Aufbrüche und Fluchten
"Ursprünge" führt zurück in die 60er und frühen 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ein junger Mann ist auf der Flucht – auf der Flucht vor den quälenden Erinnerungen an die Nazi-Vergangenheit seines Heimatlands.
Sie holt ihn überall in der Welt wieder ein: in der kleinen Taverne in Griechenland, wo ein Wirt ihm und seinem deutschsprachigen Reisegefährten ein Essen verweigert; im israelischen Kibbuz, als sich das Kollektiv gegen den Verbleib des Nicht-Juden entscheidet oder bei der Arbeitssuche in den USA. Ein junger Deutscher wie er ist dort kurz nach dem Holocaust als Philosophie-Dozent nicht annehmbar. Viele Jahre lang bleibt dieser junge Philosoph so verzweifelt wie hartnäckig im Aufbruch und unterwegs. Denn, so der Ich-Erzähler: "Tausende gereister Kilometer sind ein Lauf um die Versöhnung mit der Vergangenheit."
Doch diese Versöhnung gelingt nicht. Zu stark sind Scham und Entsetzen des Kriegskinds über das, was Deutschland auf dem Gewissen hat: "Meine Kruste ist: mit Millionen Toten auf den Schultern geboren zu sein" - ein Satz, der im Original bewusst nicht in Schürmanns Muttersprache Deutsch verfasst wurde. Der Autor hat "Ursprünge"- sein stark autobiografisches und einziges literarisches Werk - genau so wie sein umfangreiches philosophisches Oeuvre auf Französisch geschrieben. Die Erzählung erschien 1976 unter dem Titel "Les origines" in Frankreich. Zu diesem Zeitpunkt lebte Schürmann bereits in den USA. 1941 in Amsterdam geboren, war er in Krefeld aufgewachsen. Er hatte Philosophie in München und Freiburg (u.a. bei Heidegger) studiert, in einem israelischen Kibbuz gelebt, in Frankreich Theologie studiert. 1970 wurde Schürmann zum Dominikanerpriester ordiniert, er verließ aber den Orden und ging in die USA. 1993 starb er an Aids.
Es sind Schürmanns eigene Lebensstationen in diesem Buch - prägende, oft traumatische Ereignisse und Begegnungen, die in acht unverbundenen Kapiteln erinnert werden. Im ersten Kapitel "Wie ich lernte, die Fäuste zu ballen" geht es um die Bekanntschaft mit einer Arbeiterin, die dem Jungen am Tag seines Geburtstags auf dem Fabrikgelände seines Vaters die Leichen ehemaliger, "vergessener" Zwangsarbeiter zeigt. Das Kapitel "Warum ein Jude im Schwarzwald Aspirin schluckt" schildert den Besuch seines Kibbuz-Freundes aus Israel, der in einer Freiburger Apotheke auf den Peiniger aus dem KZ trifft.
Nicht nur die Inhalte sind drastisch, auch die Sprache Schürmanns überträgt das Entsetzen in körperlich erfahrbare Beklemmung. Die Qualen verdeutlichen Sätze wie "Ich tropfe aus dem Bett, ich fließe unter der Tür durch" oder die allgegenwärtigen "Verkrampfungen des Geistes". Sie haben, genau wie die ständigen Aufbrüche und Fluchten, vor allem eines zum Ziel: "Ich wollte die brennende Haut abstreifen: einer Rasse von Folterern zu entstammen."
Bei aller Konzentration auf die eigene Seelenpein versinkt das Buch nicht im Selbstmitleid des hochsensiblen, zum Tätervolk gehörigen Erzählers. Auch die Opfer kommen zu Wort. In einem sogenannten "mehrstimmigen Tagebuch" lässt Schürmann einen Holocaust-Überlebenden seine Geschichte erzählen, was im Schriftbild parallel gesetzt ist zu Politikerworten und Zeitungsnotizen über das deutsch-israelische Verhältnis der 60er Jahre - eine bizarre Verbindung, die die schleichende Akzeptanz des Unfassbaren andeutet. Schürmanns eigene Erfahrung stemmt sich mit aller Kraft gegen eine "Versöhnung" dieser Art.
Rezensiert von Olga Hochweis
Reiner Schürmann, Ursprünge, Erzählung aus dem Französischen von Michael Heitz und Esther von der Osten,
diaphanes, Zürich und Berlin, 215 Seiten, 19,90 Euro
Doch diese Versöhnung gelingt nicht. Zu stark sind Scham und Entsetzen des Kriegskinds über das, was Deutschland auf dem Gewissen hat: "Meine Kruste ist: mit Millionen Toten auf den Schultern geboren zu sein" - ein Satz, der im Original bewusst nicht in Schürmanns Muttersprache Deutsch verfasst wurde. Der Autor hat "Ursprünge"- sein stark autobiografisches und einziges literarisches Werk - genau so wie sein umfangreiches philosophisches Oeuvre auf Französisch geschrieben. Die Erzählung erschien 1976 unter dem Titel "Les origines" in Frankreich. Zu diesem Zeitpunkt lebte Schürmann bereits in den USA. 1941 in Amsterdam geboren, war er in Krefeld aufgewachsen. Er hatte Philosophie in München und Freiburg (u.a. bei Heidegger) studiert, in einem israelischen Kibbuz gelebt, in Frankreich Theologie studiert. 1970 wurde Schürmann zum Dominikanerpriester ordiniert, er verließ aber den Orden und ging in die USA. 1993 starb er an Aids.
Es sind Schürmanns eigene Lebensstationen in diesem Buch - prägende, oft traumatische Ereignisse und Begegnungen, die in acht unverbundenen Kapiteln erinnert werden. Im ersten Kapitel "Wie ich lernte, die Fäuste zu ballen" geht es um die Bekanntschaft mit einer Arbeiterin, die dem Jungen am Tag seines Geburtstags auf dem Fabrikgelände seines Vaters die Leichen ehemaliger, "vergessener" Zwangsarbeiter zeigt. Das Kapitel "Warum ein Jude im Schwarzwald Aspirin schluckt" schildert den Besuch seines Kibbuz-Freundes aus Israel, der in einer Freiburger Apotheke auf den Peiniger aus dem KZ trifft.
Nicht nur die Inhalte sind drastisch, auch die Sprache Schürmanns überträgt das Entsetzen in körperlich erfahrbare Beklemmung. Die Qualen verdeutlichen Sätze wie "Ich tropfe aus dem Bett, ich fließe unter der Tür durch" oder die allgegenwärtigen "Verkrampfungen des Geistes". Sie haben, genau wie die ständigen Aufbrüche und Fluchten, vor allem eines zum Ziel: "Ich wollte die brennende Haut abstreifen: einer Rasse von Folterern zu entstammen."
Bei aller Konzentration auf die eigene Seelenpein versinkt das Buch nicht im Selbstmitleid des hochsensiblen, zum Tätervolk gehörigen Erzählers. Auch die Opfer kommen zu Wort. In einem sogenannten "mehrstimmigen Tagebuch" lässt Schürmann einen Holocaust-Überlebenden seine Geschichte erzählen, was im Schriftbild parallel gesetzt ist zu Politikerworten und Zeitungsnotizen über das deutsch-israelische Verhältnis der 60er Jahre - eine bizarre Verbindung, die die schleichende Akzeptanz des Unfassbaren andeutet. Schürmanns eigene Erfahrung stemmt sich mit aller Kraft gegen eine "Versöhnung" dieser Art.
Rezensiert von Olga Hochweis
Reiner Schürmann, Ursprünge, Erzählung aus dem Französischen von Michael Heitz und Esther von der Osten,
diaphanes, Zürich und Berlin, 215 Seiten, 19,90 Euro