Aufbruchsphase der oberrheinischen Kunst

Von Christian Gampert |
Das Straßburger "Musée de l’Aeuvre Nôtre Dame" widmet sich in seiner jüngsten Ausstellung der Frage, warum die Stadt um 1400 zum Kunstzentrum der Gotik wurde. Die Ausstellung zeigt, dass die ansässigen Künstler über vielfältige Verbindungen verfügten. Von Mailand, Paris und Avignon bis nach Prag lassen sich vielfältige Einflüsse nachweisen.
Das Paradies ist von einer Mauer umschlossen, aber es wachsen dort üppige Blumen und sogar ein Baum der Erkenntnis, für Speisen und Getränke ist gesorgt, und überall zwitschern Vögel. Die Buntheit dieser kleinen Tafelmalerei macht Lust, sofort mitzumischen in diesem idyllischen Treiben – aber es sind nicht höfische Liebespaare, die sich hier dem Wohlleben hingeben; der Hofgarten ist vielmehr der Jungfrau Maria und ihrem Kind gewidmet, das im Blattwerk sitzt und Zither spielt, und außer diesen beiden gibt es nur noch Engel und Heilige.

Dieses Andachtsbild ist das Zentrum der Ausstellung im Straßburger "Musée de l’Aeuvre Nôtre Dame", die die im Umkreis der Münsterbauhütte um 1400 entstandene Kunst untersucht; und der namentlich unbekannte Maler dieses Werks, genannt "Le Maître du Jardin du Paradis", der "Meister des Paradiesgärtleins", steht für den Aufbruch der oberrheinischen Kunst und den Einfluss Italiens. Zum Ende des Jahrhunderts wird Dürer die Grundgedanken der Renaissance - Individualisierung der Figuren und Zentralperspektive – auch in Deutschland durchgesetzt haben; der Meister des Paradiesgärtleins steht um 1400 ganz am Anfang dieser Entwicklung, sagt Jacques Gérard, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ausstellung.

"Man weiß, dass er als Geselle in Siena war, als er noch seinen Beruf lernte. Und er hat viele verschiedene Einflüsse nach Straßburg gebracht. Und in dieser Ausstellung haben wir versucht, seine ganze Kunst zu versammeln, um diese Einheit wiederzufinden. Seine Kunst ist ein bisschen speziell, weil er immer das Interesse für die Natur zeigt. Das ist seine große Charakteristik …"

Bei den immer noch recht flächigen Naturstudien dieses Meisters kommen einem einerseits Pompejanische Wandmalereien in den Sinn, die ja auch die Illusion eines Gartens im Haus zu erwecken suchten; andererseits ist auch ein moderner Künstler wie der Zöllner Rousseau mit seinen naiven Urwäldern nicht fern. Assoziationsraum gibt es genug; wichtig allerdings ist, dass der Meister des Paradiesgärtleins die meist weltlichen Motive der Schule von Siena, die zum Beispiel um die gute und die schlechte Regierung kreisen, wieder in religiöse Zusammenhänge zurückführt, aber progressive Stilelemente beibehält.

Das gilt auch für die beiden großen Altartafeln dieses Meisters, die der Marien-Thematik gewidmet sind: Joseph hat Zweifel ob der korrekten Entstehung des Jesuskinds, ein selten gemaltes Motiv; das Personen-Arrangement und der geometrisierte Raum weisen (bis in die Behandlung der Deckengewölbe) Ähnlichkeiten mit der Siena-Schule auf. Und die "Vierge aux Fraisiers", die Madonna vor dem Erdbeerfeld, wird – mit Blattgold und floralen Elementen, aber auch in der gezierten Körperhaltung der Protagonistin - ikonographischen Einfluss auf die gesamte spätgotisch-manieristische Malerei haben, bis hin zu Stephan Lochner.

Die Ausstellung untersucht, warum Straßburg überhaupt ein Kunstzentrum der Gotik werden konnte – und das hing vor allem mit dem 1365 begonnenen Bau der Kathedrale zusammen. Jacques Gérard:

"1365 ist das Münster noch eine französische Kathedrale, mit zwei Türmen. Und dann übernimmt die Stadt Straßburg die Kontrolle über das ‚Frauenwerk‘; das heißt, die Stadt ist verantwortlich für die Münsterbauhütte. Und das ist eine sehr wichtige Änderung, weil die Stadt die Ambition hat, ihre Macht und ihre Möglichkeiten zu zeigen. Und ab diesem Moment wird das Münster eine Vitrine der Stadt Straßburg."

Die Ausstellung, auch eine Vitrine der Stadt, zeigt nun, wie die Kommunikationswege der Straßburger Künstler liefen: von Mailand, Paris und Avignon bis nach Prag lassen sich vielfältige Einflüsse nachweisen. Und ein Motiv wurde von den Straßburger Künstlern dann meist gleich durch mehrere Bildmedien gezogen: die gelockte Johannes-Figur aus einer "Kreuzigung" von (etwa) 1410 taucht auch, recht ähnlich, in der Glasmalerei eines Kirchenfensters auf, und später noch einmal in einem Skulpturen-Arrangement. Andere Motive werden auch auf Wandteppichen und Buchmalereien immer wieder durchdekliniert. Das lag natürlich daran, dass die Künstler ziemlich eng organisiert waren; auch die Straßburger Patrizier waren ja so selbstbewusst, dass sie schon 1262 den Bischof verjagt hatten, wegen der hohen Abgaben. Die Stadt wurde daraufhin von der Amtskirche geächtet – was sie nicht davon abhielt, eine Kathedrale zu bauen.

"In der Straßburger Gesellschaft gab es nicht die Maler auf einer Seite, die Bildhauer und so weiter; die lebten alle im selben Kreis, weil sie derselben Zunft zugeordnet waren. Und deswegen kann man sich vorstellen, dass es einen Austausch gab zwischen Malern und Holzschnitzern, und deswegen findet man dieselben Modelle in Glasmalerei und Skulptur."

Die Ausstellung trägt Werke aus dem Umkreis der Kathedrale zusammen, die nach den Wirren der französischen Revolution in alle möglichen Länder verstreut wurden und nun oft auch in deutschen Museen stehen. Und sie hält noch eine feine Hypothese bereit: der "Meister der Kreuzigung", der 1410 eine längliche Christus-Figur mit höchst individuell und expressiv mitleidenden Jüngern und Frauen, zum Teil auch hämisch grinsenden Soldaten umgab, sei der Straßburger Maler Hermann Schadeberg gewesen; das gehe aus Stilvergleichen, Skizzen und diversen Textstellen hervor.

Natürlich ist diese Straßburger Gotik-Ausstellung auch eine Antwort auf die großen Matthias-Grünewald-Schauen in Karlsruhe und Colmar; sie wuchert mit überlebensgroßen Figuren vom Münsterturm, mit Heiligenantlitzen und steingewordenen Angstträumen. Warum haben solche Ausstellungen alter Kunst heute so viel Erfolg, und warum wird ihn auch diese höchst gelungene Straßburger Ausstellung haben? Wahrscheinlich braucht der heute doch sehr säkulare und profane Mensch in dieser komplizierten Welt wieder einfache Geschichten. In der motivisch sehr überschaubaren Malerei der Gotik kann er sie finden – auch wenn er mit der Religion selbst möglicherweise nicht mehr viel anfangen kann.