Aufbruch im ewigen Eis
Jakutien liegt in Sibirien, hier befindet sich der Kältepol der Nord-Halbkugel. Es ist eines der rohstoffreichsten Gebiete der Russischen Föderation. Die Jakuten könnten reich sein, doch das verhindert der lange Arm von Moskau.
Gemächlich hält die „Pantelejmon Pjanda“ ihren Kurs hart Backbord, entlang am dicht mit Fichten und Birken gekrönten Steilufer der Lena. Vorne am Bug der kleinen vollgepackten Autofähre schlägt, leicht an die rostige Reling gelehnt, ein vielleicht 30-Jähriger, die langen schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, selbstvergessen den Chomus, die Maultrommel. Abwesend folgt sein Blick dem breiten, friedlichen Strom, der am Horizont mit dem graublauen Himmel zu verschwimmen scheint.
„Hast“ scheint ein Fremdwort zu sein auf diesem gemächlich-majestätischen Fluss Lena. Das leise Plätschern der Wellen verschmilzt mit dem magisch modulierenden Ton der Maultrommel. Fast alle Jakuten können sie spielen – ein echtes traditionelles Volksinstrument. Ihr Land, dieses riesige Territorium in Nordostsibirien, vermag mit seiner überwältigenden Natur den Reisenden mühelos in seinen Bann zu ziehen. Ein Land der Extreme. Über 40 Grad Hitze während des kurzen, acht bis zehn Wochen dauernden Sommers. Im Januar, Februar bis zu 60 Grad minus im jakutischen Ojmjakon, dem Kältepol Eurasiens.
„Gleich werdet ihr das spüren“, kichert Zachar fröhlich, „da draußen ist’s noch heiß – hier bei uns aber ist Winter!“ Der 50-Jährige war früher einmal Lehrer. Heute führt er Besucher durch das so genannte „Zarenreich des Ewigen Frostes“, eine Art Museum am Stadtrand von Jakutsk, der Hauptstadt der Republik Jakutien – oder: „Sacha“, wie sie sich heute in ihrer eigenen Sprache selbstbewusst nennt. Eiseshauch weht heraus, als Zachar die Tür zum Bergstollen öffnet. Minus 20 Grad zeigt das Thermometer:
„25 Prozent unseres Planeten befinden sich in der Permafrost-Zone. Mütterchen Russland besitzt davon schon 60 Prozent. Unsere Republik steht natürlich zu 100 Prozent auf ewigem Frostboden. Hier, im Bezirk Wilujsk, wohin unter dem Zaren der Dichter Nikolaj Tschernyschewskij für 14 Jahre verbannt worden war, ist die unterirdische Eisschicht fast anderthalb Kilometer dick. Bei uns in Stadt und Gebiet Jakutsk sind es nur noch zwischen 300 bis 500 Meter.“
Und die globale Erderwärmung? Ja, davon habe er gehört, nickt Zachar bedächtig. Aber Angst, dass deswegen das Eis – und damit am Ende sein Arbeitsplatz in diesem Museum – buchstäblich davonschmelzen könnte, die treibt ihn nicht gerade um. Er persönlich habe davon noch nichts gespürt. „Und“, lacht er dann leise, „für den Rest meines Lebens wird das ewige Eis schon noch reichen...“
Auf den schmal dotierten Job als Fremdenführer ist Zachar dringend angewiesen. Sein unerschütterlich scheinender Humor klingt plötzlich melancholisch. Den Beruf als Lehrer für jakutische Sprache, Kultur und Geschichte hat er keineswegs freiwillig aufgegeben. Seine Schule ist wohl geschlossen worden, zu wenig Kinder vielleicht... Das Gehalt ist ausgeblieben.... Restlos klar wird nicht, weshalb er gegangen ist oder gehen musste. Vor Fremden über eigenes Unglück zu klagen, das sei in Jakutien nicht üblich, das gehöre sich nicht. Nur soviel gibt er schließlich preis und kann Bitterkeit dabei doch nicht unterdrücken: „Natürlich hat es mir leid getan, die Schule zu verlassen“, sagt er halblaut, „weil ich nämlich kein schlechter Lehrer war.“
Der Reichtum an Rohstoffen und die schiere Größe Jakutiens – fast neun Mal so groß wie das vereinigte Deutschland – haben der dünn besiedelten Region bislang noch nicht allzu viel Glück und Wohlstand gebracht. Knapp 300.000 von rund einer Million Einwohnern insgesamt leben in der Hauptstadt Jakutsk.
Jegor Makarov ist einer von ihnen. Ihn kennen dort viele Menschen. Aber wenn sie über ihn reden, dann eher vorsichtig und zurückhaltend. Scheue Bewunderung klingt durch, manchmal allerdings auch unverhohlener Neid und offene Ablehnung. „Das ist einer unserer Orts-Oligarchen“, heißt es dann meist lakonisch. Makarov kümmert das wenig. Er fühle sich als jakutischer Patriot, betont er im Hinterzimmer des Szene-Treffs „Muß-cha“, zu deutsch: Eisberg, eines im Tex-Mex-Stil eingerichteten Restaurants, das ihm gehört. Damit verdient er offiziell sein Geld. Ein halbes Dutzend Gäste und ebenso viele Kellnerinnen verlieren sich in den weitläufigen Räumen, blicken eher gelangweilt... Wie er an sein Grundkapital gekommen ist? – „Durch harte Arbeit“, sagt er. Sein Gesicht bleibt unbewegt. Nur die Augenlider ziehen sich eine Winzigkeit enger zusammen. Immerhin: Ganz ohne Blessuren sei das nicht abgegangen, damals in den wilden 90-ern, räumt er ein und beugt sich dabei kurz nach vorn:
„Sehen Sie? Hier.. Mir fehlt ein Ohr. Das ist mir abgebissen worden. Na ja, ich hab schon ein bisschen gewusst, wie man sich schlagen muss, mich mit aller Kraft verteidigt. Manchmal war das sogar lustig! Warum denn nicht? Alle haben wir das mitgemacht, damals. War eine gute Schule. Das Ergebnis sehen Sie ja.“
Den Fremdenverkehr will er ankurbeln, sagt Makarov und zieht einen hohen Stapel selbst geschossener Hochglanzfotos heran. „Öko-Tourismus“, „Pferde-Trekking“, „alle Arten von Wintersport“... Das sind seine Stichworte. Er sei mittlerweile schon in fast allen Ländern dieser Welt gewesen, erzählt der Jakute wie beiläufig. Reisen sei seine Leidenschaft. Er könne vergleichen. Und schon deshalb ist er sich sicher: Jakutien müsse sich nicht verstecken, verfüge auch im Tourismus über ein gewaltiges Potential – wäre da nicht, wie er beißend anmerkt, ein „altes russisches Leiden“, das die Entwicklung permanent behindere:
„Wir in Jakutien haben wohl die schlechtesten Straßen in ganz Russland. Ich fahr’ doch auf ihnen hin und her! Auf gut russisch gesagt: Beim Straßenbau wird einfach geklaut! Viel Geld ist da nämlich im Spiel! Offenbar wird nicht gut genug kontrolliert. Der Permafrost spielt sicher ebenso eine Rolle. Vielleicht sind auch die Baugutachten schlecht. Am ehesten ist es aber wohl so: Es wird schlecht gewirtschaftet bei uns!“
Jegor Makarovs Klage und Rat an die Führung seiner Republik Sacha gelten jedoch ebenso gut der Regierung im acht Flugstunden entfernten Moskau:
„Die Beamten müssen endlich so arbeiten, dass für die Menschen hier die nötigen Lebens- und Arbeitsbedingungen geschaffen werden. Das Business, die Geschäftswelt, muss endlich von bürokratischem Druck befreit werden: Dazu kommt das Steuersystem, die Korruption... Der russische Ferne Osten ist einfach vernachlässigt, verödet. In unseren arktischen Regionen, da wird für die Menschen nichts getan: Keine Arbeit, keine Lebensbedingungen, keine Löhne. Seeeehr viele Probleme haben wir hier!“
Drei Häuserblocks weiter. Jegor Borissov empfängt in der Staatsoper von Jakutsk. Während aus dem Erdgeschoß leise Tonfetzen eines vor sich hin probenden Mandolinen- und Balalaika-Orchesters heraufwehen, nickt der Adressat von Makarovs Beschwerdeliste kurz und offensichtlich bekümmert vor sich hin. Die Wurzeln allen Übels stammten noch aus früheren Zeiten, als die Sowjetunion zusammengebrochen sei, gibt der Präsident der russischen Teilrepublik Sacha/Jakutien zu bedenken. Während der vergangenen zwei Jahrzehnte hätten die ohnehin schon schwach besiedelte Region noch einmal über 200.000 Menschen verlassen:
„Viele Wirtschaftszweige – vor allem im Norden – haben damals große Schwierigkeiten durchmachen müssen. Ihre Produktionen haben Verluste eingefahren. Vor allem die hohen Transportkosten waren dafür verantwortlich. Im Endergebnis haben in den 90er-Jahren viele Betriebe schließen müssen. Heute dagegen setzen wir in unserer Wirtschaftspolitik auf drei Richtungen. Erstens: Wir unterstützen unsere traditionellen Wirtschaftszweige, also die Diamanten-Industrie, den Gold- und Kohle-Abbau. Zweitens versuchen wir, neue Industriezweige aufzubauen und damit die Wirtschaft der Republik zu diversifizieren. Dazu zählt inzwischen die Erdöl-Industrie, die nach kurzer Zeit schon an die vier Millionen Tonnen gefördert hat. Und wir sind jetzt drittens dabei, auch Erdgasvorkommen auszubeuten.“
25 Prozent der Diamanten-Weltproduktion liefere Alrosa, der jakutisch-russische Staatskonzern. Jakutische Kohle werde vor allem nach Ostasien, zum Teil aber sogar bis nach Europa exportiert, erläutert Borissov. Ganz besonders interessant seien die neu in Jakutien entdeckten und auf dem Weltmarkt dringend gesuchten Rohstoffe für die Produktion moderner Kommunikationsmittel wie etwa Mobil-Telefone. Borissov scheut vor Superlativen nicht zurück:
„Unsere Regierung hat der Föderalregierung in Moskau den Vorschlag unterbreitet, die riesigen Vorkommen so genannter seltener Erden im Nordwesten unserer Republik zu erschließen. Das sind die größten bislang bekannten Lager etwa von Niobium und Scandium weltweit! Sie sind um ein Vielfaches reicher als die berühmten Abbaufelder in Brasilien. Hier handelt es sich um eine konkrete Perspektive für unsere ausländischen Partner, solch ein Projekt mit Hilfe ihrer Hochtechnologie bei uns zu verwirklichen.“
Soweit die Theorie, soweit die Pläne. Doch Borissov weiß natürlich auch:
„Um Investoren zu gewinnen, müssen wir selbstverständlich für eine entsprechende Infrastruktur sorgen. Wir stehen kurz vor dem Bau-Abschluss einer Eisenbahnlinie, die über 800 Kilometer entlang des rechten Flussufers der Lena unsere Hauptstadt Jakutsk mit der BAM verbinden wird, der ostsibirischen Bajkal-Amur-Magistrale. Wir bauen auch schon Hochspannungsleitungen zu unseren Rohstofflagern in West- und Südjakutien. Schon 600 Kilometer haben wir in kurzer Zeit fertigstellen können. Auch beim Straßenbau geht es voran. Der Süden und Westen Jakutiens ist von Jakutsk aus jetzt auch schon über Land zu erreichen.“
Präsident Borissovs regierungsamtlich verbreitete Zuversicht dürfte potentielle japanische, chinesische, koreanische aber auch europäische Investoren derzeit indes noch nicht restlos überzeugen, Richtung Jakutsk aufzubrechen, um dort Firmen zu gründen. Denn das letzte Wort nicht nur bei internationalen Wirtschaftsprojekten haben weiterhin die Politiker, Ministerialgewaltigen und Top-Bürokraten in Moskau. Und Moskau weiß um Jakutiens Reichtümer.
Tanja: „Moskau unterstützt uns... aber, ja nicht so... also...“
Zu laute und deutliche Kritik an der Führung in der fernen Hauptstadt Russlands kann Nachteile bringen. So genannter Doppel-Sprech wie zu sowjetischen Zeiten ist deshalb in vielen jakutischen Familien mindestens im Unterbewusstsein weiterhin verankert, wird – auch unbewusst – als Haltung an die junge Generation weitergegeben: Das Eine denken, in der Öffentlichkeit jedoch nur das Andere, offiziell Erwünschte, aussprechen. Tanja, eine junge jakutische Studentin, bittet zwar, ihren Namen zu verändern, nimmt dann aber ihren ganzen Mut zusammen:
„Jakutsk... ich weiß es nicht... Alrosa, wir hatten Alrosa, Diamanten, und nach drei Jahren war das vorbei. Moskau hat das gekauft. Und ich finde das sehr, sehr schlecht für uns, für unsere Ökonomie!“
Eine Kritik an alten Abhängigkeitsverhältnissen, die nicht nur viele ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen teilen, sondern inzwischen auch Teile der älteren Generation, versichert sie. Tendenzen jedoch, sich den Vorgaben aus Moskau gänzlich zu entziehen, womöglich sogar mit der Perspektive, irgendwann aus dem russischen Staatsverband auszuscheren, die habe es bei ganz wenigen oppositionell eingestellten Jakuten nur kurz zu Beginn der 90er-Jahre gegeben, als die UdSSR implodierte. Separatistische Strömungen spielten heute keine Rolle, heißt es fast unisono auf entsprechende Nachfragen – gleichgültig, ob im offiziellen oder privaten Rahmen.
Galina, Sozialpädagogin und Leiterin eines Kinder-Ensembles, schaut stolz auf die kleine Mascha, die konzentriert den Chomus schlägt, die jakutische Maultrommel. Die Kulturpolitik zu Sowjetzeiten habe versucht, das jahrhundertealte Nomadenerbe der turksprachigen Jakuten, Ewenen und Ewenken als rückständig verächtlich zu machen, zu diskreditieren, nicht selten sogar zu unterdrücken. Seit jüngster Zeit aber kümmere man sich wieder um die jakutische Nationalkultur – inzwischen offiziell erwünscht:
„Jeder Mensch bei uns hat das im Blut: Unsere nationale Tradition, unsere Musik! Die haben unsere Vorfahren schon lange vor der Sowjet-Macht gespielt. Wir haben das dann im Radio gehört, den Chomus, die Maultrommel... (stockt kurz) Na, ja, ausländisches Radio war das. (lacht ein wenig) Über die so genannten ‚Stimmen‘ wie Radio Liberty aus den USA wurde das gesendet. In allen Dörfern gab es einen zentralen Lautsprecher. Aus dem kam die Musik. Die ganze Zeit. Wir haben das immer gewollt. Wir wollten Musik machen. Doch Lehrer oder Zirkelleiter dafür, die gab es nicht. Nur unsere Omas haben auf der Maultrommel gespielt. Und denen haben wir halt zugehört.“
Die gegenwärtige Führung der Republik Sacha/Jakutien mag inzwischen begriffen haben, dass sie ihr nur noch knapp eine Million Menschen zählendes Staats-Volk in dessen Bestreben unterstützen sollte, zur eigenen Identität zurückzufinden und sie zu bewahren.
„Hast“ scheint ein Fremdwort zu sein auf diesem gemächlich-majestätischen Fluss Lena. Das leise Plätschern der Wellen verschmilzt mit dem magisch modulierenden Ton der Maultrommel. Fast alle Jakuten können sie spielen – ein echtes traditionelles Volksinstrument. Ihr Land, dieses riesige Territorium in Nordostsibirien, vermag mit seiner überwältigenden Natur den Reisenden mühelos in seinen Bann zu ziehen. Ein Land der Extreme. Über 40 Grad Hitze während des kurzen, acht bis zehn Wochen dauernden Sommers. Im Januar, Februar bis zu 60 Grad minus im jakutischen Ojmjakon, dem Kältepol Eurasiens.
„Gleich werdet ihr das spüren“, kichert Zachar fröhlich, „da draußen ist’s noch heiß – hier bei uns aber ist Winter!“ Der 50-Jährige war früher einmal Lehrer. Heute führt er Besucher durch das so genannte „Zarenreich des Ewigen Frostes“, eine Art Museum am Stadtrand von Jakutsk, der Hauptstadt der Republik Jakutien – oder: „Sacha“, wie sie sich heute in ihrer eigenen Sprache selbstbewusst nennt. Eiseshauch weht heraus, als Zachar die Tür zum Bergstollen öffnet. Minus 20 Grad zeigt das Thermometer:
„25 Prozent unseres Planeten befinden sich in der Permafrost-Zone. Mütterchen Russland besitzt davon schon 60 Prozent. Unsere Republik steht natürlich zu 100 Prozent auf ewigem Frostboden. Hier, im Bezirk Wilujsk, wohin unter dem Zaren der Dichter Nikolaj Tschernyschewskij für 14 Jahre verbannt worden war, ist die unterirdische Eisschicht fast anderthalb Kilometer dick. Bei uns in Stadt und Gebiet Jakutsk sind es nur noch zwischen 300 bis 500 Meter.“
Und die globale Erderwärmung? Ja, davon habe er gehört, nickt Zachar bedächtig. Aber Angst, dass deswegen das Eis – und damit am Ende sein Arbeitsplatz in diesem Museum – buchstäblich davonschmelzen könnte, die treibt ihn nicht gerade um. Er persönlich habe davon noch nichts gespürt. „Und“, lacht er dann leise, „für den Rest meines Lebens wird das ewige Eis schon noch reichen...“
Auf den schmal dotierten Job als Fremdenführer ist Zachar dringend angewiesen. Sein unerschütterlich scheinender Humor klingt plötzlich melancholisch. Den Beruf als Lehrer für jakutische Sprache, Kultur und Geschichte hat er keineswegs freiwillig aufgegeben. Seine Schule ist wohl geschlossen worden, zu wenig Kinder vielleicht... Das Gehalt ist ausgeblieben.... Restlos klar wird nicht, weshalb er gegangen ist oder gehen musste. Vor Fremden über eigenes Unglück zu klagen, das sei in Jakutien nicht üblich, das gehöre sich nicht. Nur soviel gibt er schließlich preis und kann Bitterkeit dabei doch nicht unterdrücken: „Natürlich hat es mir leid getan, die Schule zu verlassen“, sagt er halblaut, „weil ich nämlich kein schlechter Lehrer war.“
Der Reichtum an Rohstoffen und die schiere Größe Jakutiens – fast neun Mal so groß wie das vereinigte Deutschland – haben der dünn besiedelten Region bislang noch nicht allzu viel Glück und Wohlstand gebracht. Knapp 300.000 von rund einer Million Einwohnern insgesamt leben in der Hauptstadt Jakutsk.
Jegor Makarov ist einer von ihnen. Ihn kennen dort viele Menschen. Aber wenn sie über ihn reden, dann eher vorsichtig und zurückhaltend. Scheue Bewunderung klingt durch, manchmal allerdings auch unverhohlener Neid und offene Ablehnung. „Das ist einer unserer Orts-Oligarchen“, heißt es dann meist lakonisch. Makarov kümmert das wenig. Er fühle sich als jakutischer Patriot, betont er im Hinterzimmer des Szene-Treffs „Muß-cha“, zu deutsch: Eisberg, eines im Tex-Mex-Stil eingerichteten Restaurants, das ihm gehört. Damit verdient er offiziell sein Geld. Ein halbes Dutzend Gäste und ebenso viele Kellnerinnen verlieren sich in den weitläufigen Räumen, blicken eher gelangweilt... Wie er an sein Grundkapital gekommen ist? – „Durch harte Arbeit“, sagt er. Sein Gesicht bleibt unbewegt. Nur die Augenlider ziehen sich eine Winzigkeit enger zusammen. Immerhin: Ganz ohne Blessuren sei das nicht abgegangen, damals in den wilden 90-ern, räumt er ein und beugt sich dabei kurz nach vorn:
„Sehen Sie? Hier.. Mir fehlt ein Ohr. Das ist mir abgebissen worden. Na ja, ich hab schon ein bisschen gewusst, wie man sich schlagen muss, mich mit aller Kraft verteidigt. Manchmal war das sogar lustig! Warum denn nicht? Alle haben wir das mitgemacht, damals. War eine gute Schule. Das Ergebnis sehen Sie ja.“
Den Fremdenverkehr will er ankurbeln, sagt Makarov und zieht einen hohen Stapel selbst geschossener Hochglanzfotos heran. „Öko-Tourismus“, „Pferde-Trekking“, „alle Arten von Wintersport“... Das sind seine Stichworte. Er sei mittlerweile schon in fast allen Ländern dieser Welt gewesen, erzählt der Jakute wie beiläufig. Reisen sei seine Leidenschaft. Er könne vergleichen. Und schon deshalb ist er sich sicher: Jakutien müsse sich nicht verstecken, verfüge auch im Tourismus über ein gewaltiges Potential – wäre da nicht, wie er beißend anmerkt, ein „altes russisches Leiden“, das die Entwicklung permanent behindere:
„Wir in Jakutien haben wohl die schlechtesten Straßen in ganz Russland. Ich fahr’ doch auf ihnen hin und her! Auf gut russisch gesagt: Beim Straßenbau wird einfach geklaut! Viel Geld ist da nämlich im Spiel! Offenbar wird nicht gut genug kontrolliert. Der Permafrost spielt sicher ebenso eine Rolle. Vielleicht sind auch die Baugutachten schlecht. Am ehesten ist es aber wohl so: Es wird schlecht gewirtschaftet bei uns!“
Jegor Makarovs Klage und Rat an die Führung seiner Republik Sacha gelten jedoch ebenso gut der Regierung im acht Flugstunden entfernten Moskau:
„Die Beamten müssen endlich so arbeiten, dass für die Menschen hier die nötigen Lebens- und Arbeitsbedingungen geschaffen werden. Das Business, die Geschäftswelt, muss endlich von bürokratischem Druck befreit werden: Dazu kommt das Steuersystem, die Korruption... Der russische Ferne Osten ist einfach vernachlässigt, verödet. In unseren arktischen Regionen, da wird für die Menschen nichts getan: Keine Arbeit, keine Lebensbedingungen, keine Löhne. Seeeehr viele Probleme haben wir hier!“
Drei Häuserblocks weiter. Jegor Borissov empfängt in der Staatsoper von Jakutsk. Während aus dem Erdgeschoß leise Tonfetzen eines vor sich hin probenden Mandolinen- und Balalaika-Orchesters heraufwehen, nickt der Adressat von Makarovs Beschwerdeliste kurz und offensichtlich bekümmert vor sich hin. Die Wurzeln allen Übels stammten noch aus früheren Zeiten, als die Sowjetunion zusammengebrochen sei, gibt der Präsident der russischen Teilrepublik Sacha/Jakutien zu bedenken. Während der vergangenen zwei Jahrzehnte hätten die ohnehin schon schwach besiedelte Region noch einmal über 200.000 Menschen verlassen:
„Viele Wirtschaftszweige – vor allem im Norden – haben damals große Schwierigkeiten durchmachen müssen. Ihre Produktionen haben Verluste eingefahren. Vor allem die hohen Transportkosten waren dafür verantwortlich. Im Endergebnis haben in den 90er-Jahren viele Betriebe schließen müssen. Heute dagegen setzen wir in unserer Wirtschaftspolitik auf drei Richtungen. Erstens: Wir unterstützen unsere traditionellen Wirtschaftszweige, also die Diamanten-Industrie, den Gold- und Kohle-Abbau. Zweitens versuchen wir, neue Industriezweige aufzubauen und damit die Wirtschaft der Republik zu diversifizieren. Dazu zählt inzwischen die Erdöl-Industrie, die nach kurzer Zeit schon an die vier Millionen Tonnen gefördert hat. Und wir sind jetzt drittens dabei, auch Erdgasvorkommen auszubeuten.“
25 Prozent der Diamanten-Weltproduktion liefere Alrosa, der jakutisch-russische Staatskonzern. Jakutische Kohle werde vor allem nach Ostasien, zum Teil aber sogar bis nach Europa exportiert, erläutert Borissov. Ganz besonders interessant seien die neu in Jakutien entdeckten und auf dem Weltmarkt dringend gesuchten Rohstoffe für die Produktion moderner Kommunikationsmittel wie etwa Mobil-Telefone. Borissov scheut vor Superlativen nicht zurück:
„Unsere Regierung hat der Föderalregierung in Moskau den Vorschlag unterbreitet, die riesigen Vorkommen so genannter seltener Erden im Nordwesten unserer Republik zu erschließen. Das sind die größten bislang bekannten Lager etwa von Niobium und Scandium weltweit! Sie sind um ein Vielfaches reicher als die berühmten Abbaufelder in Brasilien. Hier handelt es sich um eine konkrete Perspektive für unsere ausländischen Partner, solch ein Projekt mit Hilfe ihrer Hochtechnologie bei uns zu verwirklichen.“
Soweit die Theorie, soweit die Pläne. Doch Borissov weiß natürlich auch:
„Um Investoren zu gewinnen, müssen wir selbstverständlich für eine entsprechende Infrastruktur sorgen. Wir stehen kurz vor dem Bau-Abschluss einer Eisenbahnlinie, die über 800 Kilometer entlang des rechten Flussufers der Lena unsere Hauptstadt Jakutsk mit der BAM verbinden wird, der ostsibirischen Bajkal-Amur-Magistrale. Wir bauen auch schon Hochspannungsleitungen zu unseren Rohstofflagern in West- und Südjakutien. Schon 600 Kilometer haben wir in kurzer Zeit fertigstellen können. Auch beim Straßenbau geht es voran. Der Süden und Westen Jakutiens ist von Jakutsk aus jetzt auch schon über Land zu erreichen.“
Präsident Borissovs regierungsamtlich verbreitete Zuversicht dürfte potentielle japanische, chinesische, koreanische aber auch europäische Investoren derzeit indes noch nicht restlos überzeugen, Richtung Jakutsk aufzubrechen, um dort Firmen zu gründen. Denn das letzte Wort nicht nur bei internationalen Wirtschaftsprojekten haben weiterhin die Politiker, Ministerialgewaltigen und Top-Bürokraten in Moskau. Und Moskau weiß um Jakutiens Reichtümer.
Tanja: „Moskau unterstützt uns... aber, ja nicht so... also...“
Zu laute und deutliche Kritik an der Führung in der fernen Hauptstadt Russlands kann Nachteile bringen. So genannter Doppel-Sprech wie zu sowjetischen Zeiten ist deshalb in vielen jakutischen Familien mindestens im Unterbewusstsein weiterhin verankert, wird – auch unbewusst – als Haltung an die junge Generation weitergegeben: Das Eine denken, in der Öffentlichkeit jedoch nur das Andere, offiziell Erwünschte, aussprechen. Tanja, eine junge jakutische Studentin, bittet zwar, ihren Namen zu verändern, nimmt dann aber ihren ganzen Mut zusammen:
„Jakutsk... ich weiß es nicht... Alrosa, wir hatten Alrosa, Diamanten, und nach drei Jahren war das vorbei. Moskau hat das gekauft. Und ich finde das sehr, sehr schlecht für uns, für unsere Ökonomie!“
Eine Kritik an alten Abhängigkeitsverhältnissen, die nicht nur viele ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen teilen, sondern inzwischen auch Teile der älteren Generation, versichert sie. Tendenzen jedoch, sich den Vorgaben aus Moskau gänzlich zu entziehen, womöglich sogar mit der Perspektive, irgendwann aus dem russischen Staatsverband auszuscheren, die habe es bei ganz wenigen oppositionell eingestellten Jakuten nur kurz zu Beginn der 90er-Jahre gegeben, als die UdSSR implodierte. Separatistische Strömungen spielten heute keine Rolle, heißt es fast unisono auf entsprechende Nachfragen – gleichgültig, ob im offiziellen oder privaten Rahmen.
Galina, Sozialpädagogin und Leiterin eines Kinder-Ensembles, schaut stolz auf die kleine Mascha, die konzentriert den Chomus schlägt, die jakutische Maultrommel. Die Kulturpolitik zu Sowjetzeiten habe versucht, das jahrhundertealte Nomadenerbe der turksprachigen Jakuten, Ewenen und Ewenken als rückständig verächtlich zu machen, zu diskreditieren, nicht selten sogar zu unterdrücken. Seit jüngster Zeit aber kümmere man sich wieder um die jakutische Nationalkultur – inzwischen offiziell erwünscht:
„Jeder Mensch bei uns hat das im Blut: Unsere nationale Tradition, unsere Musik! Die haben unsere Vorfahren schon lange vor der Sowjet-Macht gespielt. Wir haben das dann im Radio gehört, den Chomus, die Maultrommel... (stockt kurz) Na, ja, ausländisches Radio war das. (lacht ein wenig) Über die so genannten ‚Stimmen‘ wie Radio Liberty aus den USA wurde das gesendet. In allen Dörfern gab es einen zentralen Lautsprecher. Aus dem kam die Musik. Die ganze Zeit. Wir haben das immer gewollt. Wir wollten Musik machen. Doch Lehrer oder Zirkelleiter dafür, die gab es nicht. Nur unsere Omas haben auf der Maultrommel gespielt. Und denen haben wir halt zugehört.“
Die gegenwärtige Führung der Republik Sacha/Jakutien mag inzwischen begriffen haben, dass sie ihr nur noch knapp eine Million Menschen zählendes Staats-Volk in dessen Bestreben unterstützen sollte, zur eigenen Identität zurückzufinden und sie zu bewahren.