Aufbegehren und Attentate

Die schaurigen, schönen 70er-Jahre in Italien

30:17 Minuten
Straßenkampf zwischen rechten und linken Studenten am 16.03.1968 in Rom.
Links gegen rechts - an der Universität Rom prügeln sich bereits 1968 Studierende beider Lager. © picture-alliance/ dpa /UPI
Von Lisa Weiß · 18.12.2019
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Kommunisten gegen Faschisten, Anarchisten gegen den Staat: In Italien löste der "heiße Herbst" 1969 ein politisches Erdbeben aus. Studenten kämpften für mehr Demokratie - bis die Ermordung Aldo Moros durch Linksextremisten 1978 dem ein jähes Ende bereitete.
Ein kleiner, roter Renault in der Via Caetani, einer Straße im Herzen Roms. Rundherum Menschen, sie wirken aufgeregt, schauen durch die Seitenscheibe. Es ist der 9. Mai 1978. In diesem kleinen Auto liegt die Leiche eines großen italienischen Politikers: Aldo Moro, ehemaliger Ministerpräsident und Chef der Christdemokraten Italiens. Entführt, wochenlang gefangen gehalten und nun auch ermordet von den Brigate Rosse, den roten Brigaden. Einer linksextremen Terrororganisation in Italien.
"Der Fall Aldo Moro ist natürlich ein Ereignis apokalyptischen Ausmaßes, wo die Terrorbedrohung in das Herz des Staates hineingeht", sagt Martin Baumeister, Chef des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Und eine Art Höhepunkt eines Jahrzehnts, das in Italien geprägt war von Gewalt, von Straßenkämpfen, von Terrorismus von links, aber auch von rechts.
"Es scheint immer so, als seien die 70er-Jahre eine schreckliche Zeit gewesen. Es stimmt, es waren gefährliche Jahre. Auch in meinem Stadtviertel gab es Messerstechereien. Wenn du Plakate kleben gegangen bist, gab es immer die Gefahr, dass du mit Faschisten oder der Polizei aneinandergerietst. Also, es war gefährlich. Aber es waren auch Jahre großer Kreativität, großer Errungenschaften", findet dagegen Guido Tufariello, heute Portier, damals Teil der römischen Hausbesetzerszene.

Nirgends in Westeuropa waren die Kommunisten so stark

So viel steht fest: Das Jahrzehnt nach 1968 ist ein Jahrzehnt, in dem unglaublich viel passiert ist in Italien. In einem Land, das die Christdemokraten seit Jahren dominieren, in dem aber gleichzeitig die Kommunistische Partei so stark ist wie nirgendwo sonst in Westeuropa – das also den internationalen Kalten Krieg im eigenen Staat erlebt. Da wirkt das Aufbruchssignal der 68er-Bewegung wie ein Erdbeben, das das Land erschüttert. Allerdings nicht das ganze Land, sagt Martin Baumeister:
"Ich denke, die Städte waren hier doch die dominierenden. Wir haben in der direkten Nachkriegszeit eine starke Mobilisierung auf dem Land, da hat sich die Lage in den späten 60er-Jahren verschoben. Da spielt die Musik in den Städten und in den Fabriken."
Und darum schauen wir in die Städte, die großen Metropolen der damaligen Zeit. Auf ihre Geschichten. Auf ihre historischen Momente. Angefangen mit dem "autunno caldo", dem heißen Herbst. 1969, in Turin.

Turin, das Königreich Fiat

Turin, Sitz der Savoyer-Könige und erste Hauptstadt des vereinten Italien. Wenn auch nur für ein paar Jahre. Aber das hochherrschaftliche Erbe sieht man noch heute. An den weißen Prachtbauten im Zentrum, an den Boulevards. Aber Turin hat viele Gesichter, sagt auch Salvatore Tropea, Journalist und Buchautor:
"Wenn du dich umdrehst, siehst du hinter Piazza San Carlo den Bahnhof Porta Nuova. Da kommen und kamen alle Migranten an, da begann auch die Geschichte der 60er-Jahre. Auf der anderen Seite ist der Palazzo Reale, dort hat der König gewohnt."
Die Migranten kamen damals aus Süditalien, arbeiteten am Band in den Fabriken des Automobilherstellers Fiat. Auch Tropea selbst ist ein Migrant aus dem Süden, aber er hat nie in einer Fabrik gearbeitet, das ist ihm wichtig zu betonen. Er war junger, aufstrebender Reporter in der Zeit, als die Welt verrückt spielte im sonst so ruhigen Turin. Tropea steigt ins Auto, natürlich ein Lancia, die Marke gehört zum Fiat-Konzern. Das andere Turin, das er zeigen will, ist nicht im Zentrum, sondern im Süden der Stadt.
Straßenkampf zwischen vor allem Jugendlichen aus den ärmeren Stadtvierteln und der Polizei am 03.07.1969 in Turin. Auf einer Straße sind Demonstranten und fahrende Autos zu sehen, im Hintergrund Tränengaswolken.
Nach einem Streik von 250.000 Arbeitern geraten am 3.7.1969 in Turin Jugendliche und Polizisten aneinander.© UPI
Hier im Stadtteil Mirafiori wechseln sich Industrie und Mietskasernen ab, hier lebten früher die Arbeiter aus dem Süden, teilten sich ein Bett, schliefen in Schichten. An vielen Häusern gab es Schilder: Süditaliener unerwünscht – der alltägliche Rassismus, sagt Tropea, bremst ab und deutet auf ein riesiges Gebäude in einem umzäunten, verlassen aussehenden Gelände
Hier stand früher der Schriftzug "Fiat Mirafiori" und das hier war das Königreich, erklärt er. Das Königreich Fiat. Heute sind die Tore geschlossen, man sieht kaum jemanden auf dem Gelände. Seit dem Niedergang der Automobilindustrie in Italien hat Fiat radikal Stellen abgebaut. Doch damals arbeiteten rund 60.000 Menschen hier auf einem Gelände, so groß wie ein riesiges Stadtviertel.
"Hier waren die ganzen Eingangstore. Hier war der Haupteingang, der war immer offen, mit den Männern in Uniform, die die Arbeiter verächtlich 'die großen Wächter' nannten", sagt Tropea. "Die hatten diese lateinamerikanische Haltung, wie in einer Bananenrepublik."

Arbeiter und Studenten streiken gemeinsam

Fiat kontrollierte das Leben seiner Arbeiter, kontrollierte die Stadt. Die bekannte Turiner Zeitung La Stampa, der Fußballverein Juventus Turin – alles Eigentum der Unternehmerfamilie Agnelli. Fiat finanzierte Weihnachtsgeschenke für die Kinder, vergab Kredite, organisierte Wallfahrten. Ein Arbeiter, der es auch nur wagte, eine Automarke zu fahren, die nicht zum Fiat-Konzern gehörte – fast undenkbar. Bis zum heißen Herbst 1969.
"Es ist der 3. Juli 1969. Ein Streik wegen des Wohnraums. Und an diesem Streik nehmen zum ersten Mal auch die Fiat-Arbeiter teil, die aus den Fabriken kommen, woraufhin es Chaos gibt. Und zum ersten Mal kommen auch Teile der Studentenbewegung dazu, Leute, die nichts mit Fiat zu tun haben. Eine große revolutionäre Bewegung entsteht so und hier in dieser Straße kommt es zu Zusammenstößen mit der Polizei."
Salvatore Tropea ist als junger Reporter dabei, soll über die Demonstration berichten. Aber die Polizei habe keinen großen Unterschied zwischen Demonstranten und Journalisten gemacht, sie schlugen alle, erzählt er.
"Das hier war ein Schlachtfeld. Es gab viele Verletzte, es waren viel mehr, als wir später in den Zeitungen geschrieben haben. Auch weil viele lieber nicht zur Behandlung in die Krankenhäuser gegangen sind."
Und das war nur der Anfang. Die Arbeiter kämpften für mehr Geld, für mehr Pausen, für mehr Arbeitsschutz, für bessere Wohnverhältnisse. Für ein Ende der Abhängigkeit, fast schon Leibeigenschaft vom übermächtigen Fiat-Konzern. Sie streikten, demonstrierten immer wieder, den ganzen Herbst lang, vereinigten sich mit den Studenten. Die Proteste griffen auf andere Städte Italiens über.
"Fiat hat irgendwann 40.000 Menschen suspendiert", sagt Tropea. "Und dann noch einigen Tausend mit der Entlassung gedroht."
Am Ende der Erfolg: Agnelli muss nachgeben, die Suspendierungen zurücknehmen. Im neuen Tarifvertrag gibt es Gehaltserhöhungen, die 40-Stundenwoche, mehr Ferien und mehr Rechte für Gewerkschaften.

Mailand: das Attentat vom Dezember 1969

Der heiße Herbst Turins ist zu Ende, aber sein Geist wirkt nach. Fast gleichzeitig mit dem Abschluss der Verhandlungen erschüttert ein anderes Ereignis das Land.
"Es gab am Nachmittag Explosionen in Mailand und Rom. Die schwerste ist in Mailand geschehen. In der Haupthalle der Banca Nazionale dell’Agricultura. Es scheint sicher zu sein, dass eine Bombe explodiert ist. Die Tat ist durch ihre Grausamkeit, die Zahl der Verletzten und Toten die schlimmste, die Mailand in Friedenszeiten getroffen hat."
Die Autorin und Journalistin Benedetta Tobagi beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit dem Attentat an der Piazza Fontana, einem kleinen Platz wenige Schritte vom Mailänder Dom entfernt:
"In Mailand denkt an diesem 12. Dezember 1969 der größte Teil der Menschen an den Zweiten Weltkrieg. Wegen der Art der Verwüstung, die diese Bombe mit hoher Sprengkraft in der Bank angerichtet hat, wegen des Geruchs nach verbranntem Fleisch. Das alles erinnert die Mailänder an die Bombardierungen, die die Stadt gegen Ende des Zweiten Weltkriegs sehr schwer getroffen haben."
Noch heute steht hier das Gebäude, in dem damals die Bombe explodierte, insgesamt 17 Menschen starben dort oder später im Krankenhaus. Mittlerweile gehört das Haus einer anderen Bankengruppe, doch immer noch steht in großen, leuchtenden Buchstaben "Banca Nazionale di Agricultura" an der Fassade. Im Innern erinnert eine Gedenktafel an die Bombe, die damals eine Wunde ins kollektive Gedächtnis der Stadt gerissen hat, wie es Benedetta Tobagi ausdrückt:
"Die nationale Landwirtschaftsbank war ein besonderer Ort an einem besonderen Platz dieser Stadt, der an einem ganz besonderen Moment getroffen wurde. Ihr müsst euch vorstellen, dieser Platz, der seinen Namen von dem Brunnen in der Mitte hat, war ein Punkt, an dem man oft vorbeikam. Das Attentat geschieht weniger als zwei Wochen vor Weihnachten: die Lichterketten, Läden, die geschmückten Auslagen. Die Bombe explodiert um 16.38 Uhr. Also um eine Zeit, als viele Menschen aus ihren Büros kommen und in dieser Gegend flanieren, um nach Geschenken zu suchen."

Hinter dem Anschlag steckten Neofaschisten

Es ist ein Freitag, an diesem Tag ist die Bank bis 18.30 Uhr geöffnet. Landwirte kaufen und verkaufen hier Tiere, Felder oder Landmaschinen. Wer diese Bombe hier platziert hat, wollte töten, und zwar ganz normale Menschen. Es sollte ganz Italien treffen – egal ob Stadt oder Land, sagt Tobagi:
"Das hier ist ein Ort in der fortschrittlichsten Metropole Italiens in diesen Jahren, wo aber das ländliche Italien zusammenkommt, das immer noch einen großen Teil des Landes repräsentiert. Natürlich war die Tatsache, dass man eine Bank treffen wollte, eines der Elemente, mit denen man gleich von Anfang an den falschen Verdacht auf die Sündenböcke dieser Geschichte lenken wollte, also auf die Anarchisten. Eine Geschichte, die am anderen Ende dieses Platzes beginnt."
Auf der Mailänder Piazza Fontana stehen Trauergäste während der Gedenkfeier des 50. Jahrestages des Massakers von 1969.
12. Dezember 2019: Gedenken an das Massaker an der Piazza Fontana 50 Jahre danach.© imago / Independent Foto Agency Int. / Stefano De Grandis
Benedetta Tobagi führt zu zwei Gedenktafeln in einer Wiese. Beide aus weißem Marmor, beide erinnern an die gleiche Person: Giuseppe Pinelli, Eisenbahner, Anarchist, Pazifist. Der Unterschied: Auf einer steht, Pinelli sei unschuldig ermordet worden, auf der anderen, Pinelli sei auf tragische Weise unschuldig gestorben. Pinelli setzte sich für gefangene Anarchisten ein, erzählt Tobagi. Am Abend des Attentates wurde er von der politischen Polizei aufgehalten, sollte verhört werden. Für die Ermittler, sagt Tobagi, habe von Anfang an festgestanden: Die Bombe kann nur ein anarchistisches Attentat sein.
"Pinelli wird festgenommen und dann beginnt es schlecht zu laufen. Zuerst halten sie ihn für die Befragung länger fest, als es erlaubt wird, also maximal 48 Stunden. Pinelli wird schon seit drei Tagen festgehalten und in der Nacht zwischen dem 15. und 16. Dezember, um Mitternacht herum, stürzt er aus dem Fenster des Büros des Kommissars Calabresi, wo er verhört wurde, im vierten Stock. Ein Krankenwagen wird sofort gerufen, aber Pinelli stirbt."
Vier Polizisten waren anwesend, als Pinelli starb. Doch sie haben nie erzählt, was wirklich passiert ist in jener Nacht. Klar ist heute nur: Es war kein Selbstmord, wie die Polizei anfangs behauptet hatte. Und deshalb gibt es zwei Gedenktafeln – die der Stadt, mit der Aufschrift "tragisch gestorben." Und die der Studenten und Genossen von damals, mit der Aufschrift "unschuldig ermordet".
"Zuerst hat man versucht, die Gedenktafel aus den 70er-Jahren zu entfernen. Dann hat die Stadt eine Entscheidung getroffen, die aus meiner Sicht mutig und weitblickend war. Weil man nie die Wahrheit über den Tod von Pinelli erfahren hat, der jedoch in den Händen des Staates war, als er starb – etwas, was nie geschehen dürfte – hat man entschieden, dass diese beiden Gedenktafeln nebeneinander existieren dürfen. Denn wenn der Staat die Aufklärung nicht schafft, dann muss er respektieren, dass einige Bürger das Recht haben, im Fall Pinelli weiterhin von Mord zu sprechen."

Die Haupttäter konnten nie verurteilt werden

Doch wer steckte wirklich hinter dem Attentat? Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist klar: Es ist, wie auch viele andere in jenen Jahren, von der Neonazi-Organisation Ordine Nuovo organisiert worden – um einen faschistischen Staatsstreich vorzubereiten. Und es deutet sehr viel darauf hin, dass Teile der Sicherheitskräfte, der Geheimdienste, des Militärs die Täter damals gedeckt oder sie sogar bei der Tat unterstützt haben. Wohl aus Angst vor einer kommunistischen Machtübernahme.
Wer die Täter waren, ist mittlerweile bekannt, sagt Benedetta Tobagi. Die Gerichtsprozesse gegen sie zogen sich bis in die 2000er Jahre hin. Aber endgültig verurteilt werden konnten die Haupttäter nach italienischem Recht nie, weil ihre Taten verjährt waren oder weil sie in den ersten Prozessen endgültig freigesprochen wurden. Für Tobagi ist das Attentat ein Blutbad, das nie Gerechtigkeit erfahren hat – wie viele weitere der neonazistischen Organisation. Mit schweren Folgen für die italienische Geschichte:
"In Italien begann sich damals schon gewaltbereiter Linksextremismus zu entwickeln, wie in Frankreich, in Deutschland und vielen anderen Ländern. Aber wenn Italien den längsten und blutigsten linksextremen Terrorismus hatte, liegt das auch daran, dass die Gewalt von links weitgehende Zustimmung gefunden hat. Wegen des staatlichen Machtmissbrauchs während der Zeit der Attentate."
Es gab viele, die sich nach dem Attentat an der Piazza Fontana radikalisierten. Eines der bekanntesten Beispiele: Der aus den höchsten Kreisen stammende Verleger Giangiacomo Feltrinelli ging in den Untergrund, gründete eine linksextreme Gruppierung. Und starb wenige Jahre später, unter nie geklärten Umständen. Es starben viele Aktivisten in jenen Tagen, von links und von rechts. Und auch Polizisten, auch Unbeteiligte. Dass viele die 70er-Jahre als einen Bürgerkrieg zwischen links und rechts erlebt haben, kann der Historiker Martin Baumeister verstehen:
"Allein die Todesopfer, das sind viele hunderte von Personen, die dieser Gewalt zum Opfer fallen. Auch da sind bestimmte Brennpunkte wichtig. Städte wie Turin und Rom waren besonders heftig betroffen, zeitweise war Mailand auch im Blick. Jemand in der italienischen Provinz wird das vielleicht anders erlebt haben."

Rom: Kampf für Basisdemokratie, Emanzipation und freie Liebe

Es waren eben die Städte Italiens, die die Epoche prägten, mit Häuserkampf, aber auch mit Aufbruchsstimmung und sozialen Bewegungen. Städte wie Rom. Wo Guido Tufariello aufwuchs, der heutige Portier und frühere Aktivist. 1968 erlebte er als Schüler, politisierte sich damals. Doch sein Jahrzehnt waren die 70er. Guido Tufariello kommt aus einem Arbeiterviertel im Süden Roms, wie so viele seiner Generation sieht er die Kommunistische Partei Italiens als autoritär, fast so staatstragend wie die Christdemokraten. Er läuft bei Demonstrationen mit, wird Teil eines linken Stadtteilkomitees, will mehr politische Teilhabe und Mitbestimmung. Er kämpft mit all den anderen gegen die Folgen der Wirtschaftskrise, die Italien in diesen Jahren trifft. Gegen die hohen Lebenshaltungskosten, gegen die unbezahlbaren Mieten.
"Das Borghetto Latino in unserem Viertel bestand aus Häusern aus Pappe, aus Wellblech. Das war das große Problem mit den Wohnungen, deswegen gingen die Leute in diesen Jahren auf die Straße. Man kaufte proletarisch ein – also man ging in die großen Kaufhäuser und nahm einfach die ganze Kleidung mit. Man reduzierte selbst die Nebenkosten, also man zahlte einfach genau so viel für Strom wie die Industrie: Acht Lire für das Kilowatt. Privatleute mussten drei- oder viermal so viel zahlen. Man lebte, man organisierte sich – und man besetzte Häuser."
Die Besetzungen richteten sich gegen Immobilienspekulanten, die hohe Preise für halbfertige oder halb verfallene Wohnungen haben wollten, gegen die Stadt, die nur zusah, statt zu handeln, sagt er. Immer wieder versuchte die Polizei zu räumen. Und die Besetzer wehrten sich dagegen.
"Barrikaden errichten, Sachen werfen, Molotow-Cocktails, alles unternehmen, was möglich ist, damit die Polizei nicht näher kommen kann. Man kämpfte auch Mann gegen Mann mit der Polizei. Und der Polizist hat nicht immer gewonnen. Weißt du, wenn du vor dir 500 Personen hast, die dich nicht reinlassen wollen, dann ist das nicht einfach. Natürlich, nach drei Tagen haben sie es geschafft. Aber sie haben tausende Beamte rufen müssen, um das zu machen.

Schlägereien zwischen Kommunisten und linken Studenten

Die Kämpfe wurden im Laufe der Jahre gewalttätiger als noch bei den 68ern, das sagt Guido Tufariello, das sagen auch Historiker. Schusswaffen waren in Italien damals relativ einfach verfügbar. Es war eine Spirale der Gewalt, zwischen links und rechts, zwischen Obrigkeit und einfachen Bürgern. Und manchmal auch zwischen Kommunistischer Partei und linken Aktivisten. Guido Tufariello erinnert sich an die Besetzung der römischen Universität La Sapienza durch Studenten. Die Kommunistische Partei und Gewerkschaften wollten die Studenten zum Abzug bewegen. Das Ergebnis war, dass sich Kommunisten mit den linken Studenten prügelten.
"Es war schrecklich", sagt Guido Tufariello. "Denn man kämpfte gegen Arbeiter, nicht gegen Faschisten. Bis dahin hatte man sich mit Faschisten oder Polizisten geprügelt. Sich vor Arbeitern zu befinden, die hierhergekommen waren, um dich rauszuwerfen… Ich glaube, das war einer der Höhepunkte der Zusammenstöße der Bewegung."
Schwarzweiß-Aufnahme der Treppe vor der Juristischen Fakultät der Universität Rom, wo im März Studenten mit Schlagstöcken protestieren.
An der juristischen Fakultät der Universität Rom kommt es 1968 zu heftigen Protesten.© imago images / Milestone Media
Die neue Linke will Basisdemokratie, Emanzipation und freie Liebe – und das alles mit radikalen Mitteln. Den italienischen Kommunisten geht es mehr um Arbeiterrechte, sie setzen auf Ausgleich, nähern sich den Christdemokraten an. Ihr selbsterklärtes Ziel: die Demokratie vor radikalen Strömungen von links oder rechts zu schützen. Doch das Ergebnis: sowohl linke als auch rechte Gruppierungen radikalisieren sich umso mehr. Es ist ein Generationenkonflikt, mit dem die traditionellen linken Parteien, die 1968 noch mitten im Geschehen waren, nicht umgehen können. Historiker Martin Baumeister:
"Nach 10 Jahren ist tatsächlich eine neue Generation da, die einen ganz anderen Erfahrungshintergrund mitbringt, die aufgewachsen sind in einem Italien, das schon geprägt ist vom Wirtschaftswunder und ähnlichem mehr, die mit einem neuen Selbstbewusstsein und neuen Forderungen rangehen."

Palermo: Gegen Mafia, Umweltzerstörung und Atomkraft

Ortswechsel. Etwa 15 Touristen stehen vor dem Teatro Massimo in Palermo, in ihrer Mitte Linda Vetrano. Sie ist Mitte 40, Sizilianerin, aktiv bei der Organisation Addio Pizzo, also übersetzt "Tschüss Schutzgeld". Sie wird gleich eine Anti-Mafia-Stadttour veranstalten, Menschen aus aller Welt die Geschichte kriminellen Vereinigung nahebringen. Selbst hier, ganz im Süden Italiens, kam der Geist jener Jahre an, sagt sie. Studenten besetzten die Universität von Palermo, junge Menschen hatten revolutionäre Ideen. Um zu verstehen, welchen Zusammenhang das mit der Mafia hat, muss man ausnahmsweise mal raus aus der Stadt. In den kleinen Ort Cinisi, rund 30 Kilometer westlich von Palermo. Hier lebte Peppino Impastato, der sich auflehnte gegen die Cosa Nostra, die seinen Ort kontrollierte, sagt Linda Vetrano:
"Er kämpft für die Rechte der Menschen, dagegen, dass die Mafia das Monopol auf den Boden hat. Für das Recht der Jugend auf eine Zukunft. Er kämpft für die Emanzipation der Frauen. All das, was mit Emanzipation zu tun hat, ist per Definition gegen die Mafia. Und Peppino Impastato weiß das genau."
Peppino Impastato wächst in einem Mafia-Umfeld auf, erzählt Ivan Vadori, der einen Film über dessen Leben gemacht hat. Es ist ein behütetes, ruhiges Leben, er spielt Fußball, macht Hausaufgaben – bis einer seiner Verwandten in einem internen Mafia-Konflikt umgebracht wird:
"Er erfährt durch einen Lokalpolitiker, dass sein Onkel und sein Vater Mafiosi sind. Und sagt mit 15 Jahren diesen Satz: Wenn das hier Mafia ist, dann bekämpfe ich sie mein Leben lang."
Peppino Impastato hielt sein Versprechen. Er brach mit seinem Vater, gründete eine im Cosa-Nostra-Ort Cinisi wenig erfolgreiche Anti-Mafia-Zeitung, versuchte Anti-Mafia-Treffen zu organisieren. Und gründete schließlich ein freies Radio: Radio Aut. Hier griff er mit scharfen Spott, Ironie und fundiertem Wissen die Mafia, die Bosse der damaligen Zeit an, sagt Vadori:
"Vor allem hatte er eine Sache verstanden: Solange sich die Zivilgesellschaft nicht einbringt, kann man nicht gegen die Mafia kämpfen."
Peppinos Ziel: Das Gewissen einer Generation gegen die Mafia zu schärfen. Die Bosse fühlten sich verspottet – und bedroht. Die Konsequenz: Am 9. Mai 1978 wurde Peppino Impastato ermordet. Peppino Impastato war ein Kind seiner Zeit, sagt Ivan Vadori, kandidierte bei Kommunalwahlen für eine linkssozialistische Partei, setzte sich für Umweltschutz und gegen Atomkraft ein:
"Ich sehe Peppino in keiner anderen Zeit als den 70er-Jahren. Es waren ja die Jahre des freien Radios, er selbst hat sich in dieses Kommunikationsmittel verliebt."

Bologna - Einschusslöcher in der Mauer

Bologna, Stadt der Studenten. Auch hier gab es ein freies Radio: Radio Alice. Dadaistische Gespräche, subversive Songs, Moderationen voller Schimpfwörter oder Anleitungen, wie man Zugtickets fälschen konnte – bei Radio Alice ging alles über den Äther. Bei Jugendlichen und Studenten lief Radio Alice oft den ganzen Tag. Es gab kein Programm oder Sendeschema – das war revolutionär, sagt Valerio Minella, der den Sender mitgegründet hat:
"Man kam rein, wenn schon ein anderer vor dem Mikro saß, wartete man oder man setzte sich einfach daneben und moderierte mit, es war familiär. Wie wenn du in der Küche sitzt und isst und deine Geschwister kommen rein und essen mit."
Radio Alice steht noch heute unten auf der heruntergelassenen Jalousie eines Ladens in der Via del Pratello in Bologna. Darüber: das Bild einer jungen Frau, die ein altmodisches Radio in der Hand hält. Minella, schütterer weißer Pferdeschwanz, deutet auf die schwere Holztür daneben. Hier war damals der Eingang zu Radio Alice, gesendet wurde im obersten Stockwerk, mit einfachsten Mitteln.
Gegründet wurde Radio Alice 1976, benannt nach Alice im Wunderland, erzählt Minella auf dem Weg Richtung Universitätsviertel. Es hatte nur eine kurze Lebensdauer, ist aber in Italien heute immer noch bekannt. Das liegt vor allem an den Ereignissen des Settantasette, des Jahres 1977 – in Italien ein fester Begriff. Ein Jahr, geprägt von Studentenprotesten, Bologna war eine der Hauptstädte der Bewegung. Minella zeigt auf eine Hauswand in einer Seitenstraße:
"Das hier sind die Einschusslöcher in der Mauer, die entstanden sind, als sie auf Francesco Lorusso geschossen und ihn umgebracht haben. Das war gegen Mittag am 11. März 1977 und das hat den Ausbruch des Zorns, die Rebellion der Bewegung hervorgerufen, die das Herz der Stadt eingenommen hat. Mit Barrikaden, Besetzungen, Plünderungen und all dem, was typisch ist für einen so dramatischen Moment."

Plötzlich stehen die Studierenden Panzern gegenüber

Straßenkämpfe brachen aus, es waren wieder einmal bürgerkriegsähnliche Zustände. Und diesmal rückte das italienische Militär mit Panzern an. Die schweren Fahrzeuge schoben sich durch die engen Gassen der Altstadt.
"Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wie bewusst uns das in dem Moment war, was wir da erlebten", sagt Minella. "Danach haben wir innegehalten und uns gedacht: Wie bitte? Wir standen Panzern gegenüber? Aber in diesem Moment haben wir gar nicht richtig verstanden, wer uns da gegenüberstand. Auch weil keiner von uns darauf vorbereitet war."
Ein paar Schritte weiter, der große Platz vor dem Hauptgebäude der Universität. Wo heute Studenten friedlich in der Sonne auf dem Boden sitzen, war damals das Zentrum der Ereignisse, sagt Minella. Und von den Telefonzellen aus, die an vielen Straßenecken hier im Viertel standen, kontaktierten die Leute Radio Alice.
"Radio Alice war das Megaphon der Ereignisse. Wer auch immer etwas sagen wollte, hat Radio Alice angerufen oder kam vorbei. Sie haben erzählt, die Polizei bewegt sich hierhin und dorthin, die Genossen laufen dahin und dorthin. Sie haben live aus den Telefonzellen berichtet."
Und Radio Alice hat wie immer alles live übertragen:
"Zu einem Zeitpunkt, an dem die Zusammenstöße auf der Straße sich beruhigt hatten, es schien, als ob wirklich alles ruhig geworden wäre, hören wir auf einmal ein lautes Klopfen an der Tür: Macht auf!"
Die Polizei schlug die Tür ein, stand schwer bewaffnet mit kugelsicheren Westen, Maschinengewehren vor den Studenten. Fast alle flohen über die Dächer, Valerio Minella blieb. Und moderierte weiter, wenn auch mit erhobenen Händen:
Mehrere Monate verbrachte Minella danach im Gefängnis, Mikrofone und Bänder wurden konfisziert, die Studentenrevolte niedergeschlagen. Doch, und das ist Valero Minella wichtig zu betonen, fast alle heute berühmten Künstler, Schriftsteller oder Comiczeichner, die damals jung und in Bologna waren, verbindet eines: Sie waren Teil von Radio Alice.

Die Entführung und Ermordung Moros spaltet das Land

Donnerstag, 16. März 1978. Eine Sonderausgabe des "telegiornale" im italienischen Fernsehsenders RAI beschreibt die Entführung von Aldo Moro, dem Chef der Christdemokraten Italiens durch die roten Brigaden. Der Römer Roberto Orru, heute Kameramann, war damals 17 Jahre alt, besuchte eine Schule, wenige Meter vom Tatort entfernt. Sobald er und seine Freund von der Entführung erfuhren, rannten sie hin.
"Wir sind da angekommen und vor uns war ein schreckliches Szenario", erinnert er sich. "Die Straße war verbarrikadiert, es standen Autos da, Laken bedeckten einige Leichen, die ausgestreckt auf der Straße lagen und andere, die in den Autos waren."
Polizisten und Personenschützer, ermordet während der Entführung. Er habe damals verstanden, dass das alles nichts mehr mit Politik zu tun habe, sagt Roberto Orru heute.
"Auf dem Weg zum Tatort haben wir Witze gemacht, auch über Aldo Moro. Es gab ein Davor und ein Danach. Bis zu diesem Moment konnte man auch dumme Witze über den Terrorismus, über das Leben eines Politikers machen. Aber dort haben wir fünf Personen auf dem Boden liegend gesehen und dann sind wir aufgewacht. Aus dieser Illusion, dass der Terrorismus den Bösen Angst macht. Nein. Der Terrorismus heißt Terrorismus, weil er Terror bringt, weil er allen Angst macht."
Eine historische schwarz/weiss Aufnahme von der Leiche Aldo Moros, die in einem Kofferraum liegt, mit Polizisten und aufgeregt diskutierenden Menschen drumherum. 55 Tage nach seiner Entführung ist der italienische Politiker Aldo Moro am 9. Mai 1978 im Zentrum Roms in einem Auto ermordet aufgefunden worden.
Aldo Moro wurde am 9.Mai 1978 in Rom ermordet aufgefunden© picture-alliance / dpa / Ansa
55 Tage dauerte die Entführung von Aldo Moro, die roten Brigaden wollten damit unter anderem die Annäherung zwischen Kommunistischer Partei und Christdemokraten sabotieren, verlangten die Freilassung von Gesinnungsgenossen. Die Regierung lehnte Verhandlungen ab, der Papst bot sich als Austausch-Geisel an, während Aldo Moro bittere Briefe aus der Gefangenschaft schrieb. Seine Entführung spaltete das Land weiter. Bis er ermordet in dem kleinen roten Renault aufgefunden wurde. Ein Schock für das Land, auch für Guido Tufariello, den linken Aktivisten:
"Für uns war das die komplette Zerstörung, denn wir wollten niemanden umbringen. Und eine hilflose Person zu töten, ist noch mal etwas Anderes als das, was während der Zusammenstöße passiert ist. Ich glaube, dass die Entführung von Aldo Moro viele zum Nachdenken gebracht hat, besonders die, die sich der Dinge mehr bewusst waren, die politischer waren."

Nach Moros Tod sagten viele: Es reicht!

Auch Historiker Martin Baumeister sieht die Entführung und Ermordung von Aldo Moro als Zäsur:
"Die große Erwartung, die sich in diesem Jahrzehnt zwischen 68 und 78, also bis zur Ermordung von Moro, aufgebaut hat, ist gebrochen worden."
Guido Tufariello sieht das ähnlich: "Die 80er-Jahre kamen, und wir haben gesagt, es reicht. Wir können nicht mehr weitermachen, amüsieren wir uns eben. Und in der Tat haben Discos aufgemacht, man ging tanzen, auch ich habe gesungen und Musik gemacht, eine Band gegründet. Ich habe mich Anfang der 80er der Punk-Musik angenähert, um immer noch ein bisschen außerhalb des Establishments zu bleiben. Aber klar, es kam auch die Erschöpfung, die Enttäuschung."
Heute mischt sich in die Erzählung von Guido Tufariello auch Wehmut. Es seien schwierige, aber auch schöne Jahre gewesen. Es habe große Errungenschaften gegeben, die noch heute in Italien nachwirken: ein moderneres Familienrecht, die Möglichkeit der Scheidung, der Abtreibung, eine bessere Krankenversicherung zum Beispiel. Aber gleichzeitig habe er Genossen und Polizisten sterben sehen, sagt er. Ein hoher Preis. Sie haben einen hohen Preis gezahlt für die Reformen – und die Hoffnung, in Italien mehr Demokratie wagen zu können:
"Warum unsere Generation? Weil die 68er-Bewegung und all diese Kämpfe in den 70er-Jahren dieses Gefühl geschaffen haben, dass man mit einem kräftigen Schubs diese parlamentarische Demokratie verändern, aus den Angeln heben könnte. Das Verlangen nach Demokratie ist stärker als alles andere. Du bist auch bereit, dein Leben zu riskieren, zusammengeschlagen zu werden. Denn du glaubst an diese Sache. Das war damals so, man hat daran geglaubt."
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