Aufbauhilfe aus Eigennutz
Der Historiker Konrad Jarausch hat den vor 60 Jahren ins Leben gerufenen Marshall-Plan als „aufgeklärten Eigennutz der Vereinigten Staaten“ bezeichnet. Jarausch sagte im Deutschlandradio Kultur, die Wiederaufbauhilfe für Europa diente auch dazu, Absatzmärkte für amerikanische Waren zu schaffen sowie die Ausbreitung des Sowjet-Kommunismus einzudämmen.
König: Heute vor 60 Jahren verkündete der amerikanische Außenminister George Marshall in einer Rede vor der Absolventenklasse der Harvard University die Idee zu einem Plan, mit dem Europa wirtschaftlich geholfen werden sollte. 60 Jahre Marshall-Plan, ich begrüße im Studio den deutsch-amerikanischen Historiker Professor Konrad Jarausch vom Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam. Herr Jarausch, guten Morgen.
Konrad Jarausch: Guten Morgen.
König: Weit verbreitet ist ja die Annahme, mit dem Marshall-Plan hätten die USA gezielt den Deutschen nach dem verheerenden Krieg wieder auf die Beine helfen wollen. Auch in meiner Schulzeit wurde das sehr betont. Dabei ging es den USA um Europa. Deutschland wurde erst in letzter Minute in diesen Plan aufgenommen. Wie verhielt sich das? Was sollte der Marshall-Plan sein und was wurde er dann?
Jarausch: Er war ein aufgeklärter Eigennutz der Vereinigten Staaten. Es ist ein klassisches Beispiel dafür, wie man sich selbst etwas Gutes tun kann, indem man anderen Leuten etwas Gutes tut. Und er war natürlich allgemeineuropäisch konzipiert. Die Deutschen waren ja der Kriegsgegner, der große Feind gewesen, und man hätte keinen Plan für den besonderen Wiederaufbau der Deutschen konzipiert. Man hatte doch Freunde – die Engländer, die Franzosen, die Italiener hatten dann gerade noch schnell genug die Seite gewechselt. Wenn man sich die Zahlen anguckt, was an Mitteln geflossen ist, die kamen alle vor den Deutschen.
Das Interessante und Großzügige dabei war, dass die Deutschen auch mitgenommen wurden, weil man kapiert hatte, dass man keinen – auf Englisch würde man sagen – keinen Donut machen konnte, das heißt, man konnte nicht sozusagen einen Krapfen mit einem Loch in der Mitte backen und die Deutschen weglassen sozusagen. Die Deutschen waren in der Mitte Europas, und wenn Europa gesunden sollte, dann musste man die Deutschen in irgendeiner Form mitnehmen. Das ist das Konstruktive.
König: Es war mehr gezwungenermaßen, was dann in Westdeutschland zum Beginn ja wirklich einer mythischen Beziehung, nämlich dieser berühmten deutsch-amerikanischen Freundschaft hoch stilisiert wurde?
Jarausch: Ja, sicher. Ich meine, damit zusammen hängt natürlich auch ein Jahr später die Luftbrücke, besonders für die Berliner ...
König: ‚48.
Jarausch: ... und dann auch das Verhältnis zwischen den amerikanischen Soldaten – den GIs oder so was – in den verschiedenen Stationierungsplätzen und der deutschen Bevölkerung. Es gab einen enormen Kontrast zu dem, was die Rote Armee zum Beispiel 1945 angerichtet hatte. Also alle diese Dinge verbanden sich. Und ich meine, dann gab es natürlich auch noch diese berühmten Care Packages und die Schulspeisung, von der ich als Kind auch profitiert habe. Denn ich meine, ich war einfach ein mickriger, kleiner Junge, der Hunger hatte, und wenn es dann irgendwie Kakao oder Brötchen oder sonst was in der Schule gab, wenn das aus Amerika kam, das hat alles irgendwie bewirkt, dass Amerika positiv konnotiert wurde.
König: Aufgeklärter Eigennutz haben Sie den Marshall-Plan genannt. Was genau versprach sich die amerikanische Wirtschaft, die amerikanische Politik davon?
Jarausch: Ja, es geht um drei verschiedene Dinge. Ich meine, wenn man sich den Text der Rede von Marshall noch mal anschaut oder so was, dann redet er doch in ziemlich bewegender Form über die Zerstörung Europas und über die Tatsache, dass sich Europa nicht selbst sozusagen Münchhausenmäßig aus dem Sumpf ziehen könnte, sondern es bräuchte einen Anstoß von außen, um den Teufelskreis, den vicious circle zu brechen. Und diesen Anstoß wollten die Amerikaner geben. Gleichzeitig hatten die Amerikaner natürlich auch eine enorme Wirtschaft, das ist der Höhepunkt sozusagen in ihrer – im Vergleich – in der Weltleistung der amerikanischen Wirtschaftsentwicklung überhaupt, weil sie ...
König: Der Höhepunkt.
Jarausch: Der Höhepunkt, ja, sicher, des Anteils des Weltgesamtwirtschaftsproduktes und auch des Außenhandels oder so was, weil die Amerikaner ja doch den Krieg gegen die Nazis eigentlich finanziert haben und auch materiell unterstützt haben, sogar Lieferungen nach Russland gemacht haben – ich weiß nicht mehr genau, 250.000 Lastwagen oder irgendwie so, es gibt da enorme Zahlen oder so was. Und aufgrund dieser Sache war die amerikanische Wirtschaft im Krieg enorm gewachsen, auch die amerikanische Landwirtschaft, und sie suchten natürlich nach Märkten. Und wenn Europa daniederlag, die Europäer kein Geld hatten und der Handel nicht funktionierte, dann konnten sie die Produkte dieser amerikanischen Wirtschaft nicht abnehmen. Also war es intelligent, den Europäern Geld zu leihen, damit sie mit diesem geliehenen Geld amerikanische Produkte kaufen könnten. Also das war der zweite Teil der Sache.
Und der dritte hatte auch mit dem einsetzenden Kalten Krieg zu tun. Das wird in der Marshall-Rede nur indirekt angesprochen, indem er vor Chaos warnt und sozusagen sagt, dieser Plan ist gegen keine andere Macht gerichtet, aber Leute, die von diesen Schwierigkeiten profitieren wollen oder so was, denen werden wir entschieden entgegentreten. Also das Wort Kommunismus taucht nicht auf, aber es ist impliziert.
König: Wer Ohren hat zu hören. Jetzt hat es ja im März ‚47 die Truman-Doktrin gegeben, also die sich ausbreitende Sowjetideologie muss mit allen Mitteln eingedämmt werden, wie es damals hieß. War das jetzt auch ein Teil dieser Eindämmungsstrategie, auch Stalin ja das Angebot zu machen, mit den Ländern, die sozusagen in seinem Machtbereich lagen, am Marshall-Plan teilzunehmen, oder war das ein ernstzunehmendes Angebot, wirklich einen europäischen, gesamteuropäischen Wirtschaftsraum zu schaffen?
Jarausch: Ja, Gott, ich meine, es ist noch etwas offen, es ist ein Teil dieses Übergangs von der großen Grand Alliance, von der Koalition, von der Hitlerkoalition, und der linke Teil der Intellektuellen und Demokraten usw. in Washington wollte eigentlich diese Zusammenarbeit mit der Sowjetunion weiterführen. Es gab diese „One World“-Ideologie, und die UNO ist ja auch eine Gründung, die aus dieser Ideologie hervorgegangen ist. Und ich denke, dieses Denken war noch nicht ganz verschwunden.
Also hat man das Angebot so gemacht, dass es offen war, aber die Sowjetunion hatte es sofort auch als wirtschaftliche Methode interpretiert, den amerikanischen Machtbereich zu festigen und wollte deswegen dann auch ihre Satelliten da heraushalten. Und es gab, glaube ich, auch keine wirklich ernste Diskussion in Moskau, da selber mitzumachen, sondern man wollte, dass die eigenen Schulden vergeben würden, und man wollte ein andere Art von Wirtschaftsbeziehung, und die Amerikaner wollten das nicht machen.
König: Es hat am Ende – wenn man das überhaupt so sagen kann – am Ende des Irak-Krieges oder der ersten Angriffswellen immer mal Forderungen gegeben, auch für den Irak solle es so etwas irgendwie Ähnliches wie den Marshall-Plan geben. Was halten Sie von derlei?
Jarausch: Das ist in Washington auch ganz ernsthaft diskutiert worden und eigentlich auch geplant worden. Zwei Dinge sind dazu zu bemerken: Das eine ist, dass es die Kontrolle der Sicherheitslage braucht. Also solange die Situation nicht stabil ist, kann man mit den besten Wiederaufbauplänen der Welt nicht wirklich vorankommen, denn man baut irgendwo einen neuen Brunnen oder bringt die Elektrizität wieder zum Laufen oder so was, und dann gibt's einen Sprengstoffanschlag und es geht gleich wieder kaputt. Also das ist dann eine negative Sache.
Und der zweite Punkt ist, dass es auch aufgrund der Zusammensetzung der amerikanischen Regierung – und hier sage ich etwas Selbstkritisches – so gelaufen ist, dass viele von diesen Dingen dann großen amerikanischen Firmen zugeschanzt worden sind, die die Republikaner bei der letzten Wahl unterstützt hatten, um das jetzt mal ganz weich ...
König: Sehr elegant formuliert.
Jarausch: ... zu formulieren, sodass es also dann auch in Amerika selber gleich eine Kritik gab, dass das eben sehr danach aussah, als ob da, ja gut, Beziehungen im Spiel waren und Wahlschulden ausgeglichen wurden, statt wirklich Wiederaufbauprogramme für Irak angefangen würden.
König: Wäre nicht Afghanistan ein geeigneteres Land gewesen nach dem Krieg, Oktober 2001 bis 2002 hinein, wo ja wirklich für den Moment es schien, als sei das Land jetzt erst mal „befriedet“?
Jarausch: Ja, doch, natürlich, nur es ist auf anderer Ebene auch wesentlicher schwieriger oder so was, weil Afghanistan viel zerstückelter ist und fast noch eine Stammeskultur hat, also als Einheit kaum wirklich existiert, während im Irak war schon eine Chance, denn der Irak war das erste von den Ländern, die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Ottomanischen Reich herausgeschnitten worden waren, was schon 1935, wenn ich mich richtig erinnere, unabhängig wurde. Ich denke, da gab es auch mehr Mittelklasse und modernisierte Leute oder so was. Es hätte schon besser funktionieren können.
König: In Westdeutschland nach dem Krieg wurde der Marshall-Plan wirklich zum auch sichtbaren Ausdruck des deutsch-amerikanischen Miteinanders. Sie haben andere Punkte genannt, die hinzukommen, also die Care-Pakete oder die Unterstützung ‚48 bei der Berliner Blockade. Ich bin aufgewachsen, überall sah man gebaut mit Mitteln aus dem Marshall-Plan, also für mich war das wirklich ... ich sehe das heute noch vor mir. Wie würden Sie diesen Stand der deutsch-amerikanischen Beziehung heute sehen? Gibt es eine Freundschaft zwischen diesen Ländern?
Jarausch: Es gibt beides, es gibt ein solides Fundament von zwischenmenschlichen Beziehungen. Viele Familien, die ich kenne, haben Mitglieder auf der einen oder anderen Seite des Atlantiks. Es gibt auch viele gemeinsame Interessen, Wirtschaftsverbindungen, militärische Interessen usw., aber es gibt auch einen deutschen Antiamerikanismus, und es gibt eine Art von kultureller Entfremdung auch auf der amerikanischen Seite.
Bei den gemeinsamen Grundwerten, der Menschenrechte, der Demokratie, auch eines freien marktwirtschaftlichen Systems, ist die Interpretation doch ganz anders, denn in den Vereinigen Staaten glaubt man an die Todesstrafe, hat man ein anderes Verhältnis zu Schusswaffen, ist der Begriff des Krieges ganz anders konnotiert, spielt die Religion im täglichen Leben eine viel stärkere Rolle und gibt es auch sehr viel Misstrauen gegenüber wirklich multilateralen internationalen Organisationen. Und dann habe ich noch den Sozialstaat vergessen, ich meine, der natürlich auch eine ganz andere Rolle in Europa spielt. Also bei all diesen Dingen oder so was sehe ich kulturelle Differenzen und halte deswegen eine ...
König: Die aber auch fruchtbar sein können, wenn man sie offen miteinander diskutiert.
Jarausch: Ja, natürlich, natürlich. Nur ich meine, das, was früher gegeben war, solange also noch hunderttausende amerikanische Soldaten in den Vereinigten Staaten waren ...
König: In Deutschland meinen Sie.
Jarausch: ... in Deutschland, hier stationiert waren, ist eine Art von menschlicher Beziehung oder so was. Das ist dabei zu erodieren, weil sich auch die Bevölkerung der Vereinigten Staaten verändert, also viel mehr Einwanderer aus Lateinamerika und aus Asien kommen, der schwarze Anteil wächst auch noch mehr, sodass also man das nicht mehr für selbstverständlich halten kann, diese deutsch-amerikanische Beziehung. Sie bedarf der intensiven Pflege.
König: 60 Jahre Marshall-Plan – ein Gespräch mit dem deutsch-amerikanischen Historiker Professor Konrad Jarausch. Vielen Dank.
Konrad Jarausch: Guten Morgen.
König: Weit verbreitet ist ja die Annahme, mit dem Marshall-Plan hätten die USA gezielt den Deutschen nach dem verheerenden Krieg wieder auf die Beine helfen wollen. Auch in meiner Schulzeit wurde das sehr betont. Dabei ging es den USA um Europa. Deutschland wurde erst in letzter Minute in diesen Plan aufgenommen. Wie verhielt sich das? Was sollte der Marshall-Plan sein und was wurde er dann?
Jarausch: Er war ein aufgeklärter Eigennutz der Vereinigten Staaten. Es ist ein klassisches Beispiel dafür, wie man sich selbst etwas Gutes tun kann, indem man anderen Leuten etwas Gutes tut. Und er war natürlich allgemeineuropäisch konzipiert. Die Deutschen waren ja der Kriegsgegner, der große Feind gewesen, und man hätte keinen Plan für den besonderen Wiederaufbau der Deutschen konzipiert. Man hatte doch Freunde – die Engländer, die Franzosen, die Italiener hatten dann gerade noch schnell genug die Seite gewechselt. Wenn man sich die Zahlen anguckt, was an Mitteln geflossen ist, die kamen alle vor den Deutschen.
Das Interessante und Großzügige dabei war, dass die Deutschen auch mitgenommen wurden, weil man kapiert hatte, dass man keinen – auf Englisch würde man sagen – keinen Donut machen konnte, das heißt, man konnte nicht sozusagen einen Krapfen mit einem Loch in der Mitte backen und die Deutschen weglassen sozusagen. Die Deutschen waren in der Mitte Europas, und wenn Europa gesunden sollte, dann musste man die Deutschen in irgendeiner Form mitnehmen. Das ist das Konstruktive.
König: Es war mehr gezwungenermaßen, was dann in Westdeutschland zum Beginn ja wirklich einer mythischen Beziehung, nämlich dieser berühmten deutsch-amerikanischen Freundschaft hoch stilisiert wurde?
Jarausch: Ja, sicher. Ich meine, damit zusammen hängt natürlich auch ein Jahr später die Luftbrücke, besonders für die Berliner ...
König: ‚48.
Jarausch: ... und dann auch das Verhältnis zwischen den amerikanischen Soldaten – den GIs oder so was – in den verschiedenen Stationierungsplätzen und der deutschen Bevölkerung. Es gab einen enormen Kontrast zu dem, was die Rote Armee zum Beispiel 1945 angerichtet hatte. Also alle diese Dinge verbanden sich. Und ich meine, dann gab es natürlich auch noch diese berühmten Care Packages und die Schulspeisung, von der ich als Kind auch profitiert habe. Denn ich meine, ich war einfach ein mickriger, kleiner Junge, der Hunger hatte, und wenn es dann irgendwie Kakao oder Brötchen oder sonst was in der Schule gab, wenn das aus Amerika kam, das hat alles irgendwie bewirkt, dass Amerika positiv konnotiert wurde.
König: Aufgeklärter Eigennutz haben Sie den Marshall-Plan genannt. Was genau versprach sich die amerikanische Wirtschaft, die amerikanische Politik davon?
Jarausch: Ja, es geht um drei verschiedene Dinge. Ich meine, wenn man sich den Text der Rede von Marshall noch mal anschaut oder so was, dann redet er doch in ziemlich bewegender Form über die Zerstörung Europas und über die Tatsache, dass sich Europa nicht selbst sozusagen Münchhausenmäßig aus dem Sumpf ziehen könnte, sondern es bräuchte einen Anstoß von außen, um den Teufelskreis, den vicious circle zu brechen. Und diesen Anstoß wollten die Amerikaner geben. Gleichzeitig hatten die Amerikaner natürlich auch eine enorme Wirtschaft, das ist der Höhepunkt sozusagen in ihrer – im Vergleich – in der Weltleistung der amerikanischen Wirtschaftsentwicklung überhaupt, weil sie ...
König: Der Höhepunkt.
Jarausch: Der Höhepunkt, ja, sicher, des Anteils des Weltgesamtwirtschaftsproduktes und auch des Außenhandels oder so was, weil die Amerikaner ja doch den Krieg gegen die Nazis eigentlich finanziert haben und auch materiell unterstützt haben, sogar Lieferungen nach Russland gemacht haben – ich weiß nicht mehr genau, 250.000 Lastwagen oder irgendwie so, es gibt da enorme Zahlen oder so was. Und aufgrund dieser Sache war die amerikanische Wirtschaft im Krieg enorm gewachsen, auch die amerikanische Landwirtschaft, und sie suchten natürlich nach Märkten. Und wenn Europa daniederlag, die Europäer kein Geld hatten und der Handel nicht funktionierte, dann konnten sie die Produkte dieser amerikanischen Wirtschaft nicht abnehmen. Also war es intelligent, den Europäern Geld zu leihen, damit sie mit diesem geliehenen Geld amerikanische Produkte kaufen könnten. Also das war der zweite Teil der Sache.
Und der dritte hatte auch mit dem einsetzenden Kalten Krieg zu tun. Das wird in der Marshall-Rede nur indirekt angesprochen, indem er vor Chaos warnt und sozusagen sagt, dieser Plan ist gegen keine andere Macht gerichtet, aber Leute, die von diesen Schwierigkeiten profitieren wollen oder so was, denen werden wir entschieden entgegentreten. Also das Wort Kommunismus taucht nicht auf, aber es ist impliziert.
König: Wer Ohren hat zu hören. Jetzt hat es ja im März ‚47 die Truman-Doktrin gegeben, also die sich ausbreitende Sowjetideologie muss mit allen Mitteln eingedämmt werden, wie es damals hieß. War das jetzt auch ein Teil dieser Eindämmungsstrategie, auch Stalin ja das Angebot zu machen, mit den Ländern, die sozusagen in seinem Machtbereich lagen, am Marshall-Plan teilzunehmen, oder war das ein ernstzunehmendes Angebot, wirklich einen europäischen, gesamteuropäischen Wirtschaftsraum zu schaffen?
Jarausch: Ja, Gott, ich meine, es ist noch etwas offen, es ist ein Teil dieses Übergangs von der großen Grand Alliance, von der Koalition, von der Hitlerkoalition, und der linke Teil der Intellektuellen und Demokraten usw. in Washington wollte eigentlich diese Zusammenarbeit mit der Sowjetunion weiterführen. Es gab diese „One World“-Ideologie, und die UNO ist ja auch eine Gründung, die aus dieser Ideologie hervorgegangen ist. Und ich denke, dieses Denken war noch nicht ganz verschwunden.
Also hat man das Angebot so gemacht, dass es offen war, aber die Sowjetunion hatte es sofort auch als wirtschaftliche Methode interpretiert, den amerikanischen Machtbereich zu festigen und wollte deswegen dann auch ihre Satelliten da heraushalten. Und es gab, glaube ich, auch keine wirklich ernste Diskussion in Moskau, da selber mitzumachen, sondern man wollte, dass die eigenen Schulden vergeben würden, und man wollte ein andere Art von Wirtschaftsbeziehung, und die Amerikaner wollten das nicht machen.
König: Es hat am Ende – wenn man das überhaupt so sagen kann – am Ende des Irak-Krieges oder der ersten Angriffswellen immer mal Forderungen gegeben, auch für den Irak solle es so etwas irgendwie Ähnliches wie den Marshall-Plan geben. Was halten Sie von derlei?
Jarausch: Das ist in Washington auch ganz ernsthaft diskutiert worden und eigentlich auch geplant worden. Zwei Dinge sind dazu zu bemerken: Das eine ist, dass es die Kontrolle der Sicherheitslage braucht. Also solange die Situation nicht stabil ist, kann man mit den besten Wiederaufbauplänen der Welt nicht wirklich vorankommen, denn man baut irgendwo einen neuen Brunnen oder bringt die Elektrizität wieder zum Laufen oder so was, und dann gibt's einen Sprengstoffanschlag und es geht gleich wieder kaputt. Also das ist dann eine negative Sache.
Und der zweite Punkt ist, dass es auch aufgrund der Zusammensetzung der amerikanischen Regierung – und hier sage ich etwas Selbstkritisches – so gelaufen ist, dass viele von diesen Dingen dann großen amerikanischen Firmen zugeschanzt worden sind, die die Republikaner bei der letzten Wahl unterstützt hatten, um das jetzt mal ganz weich ...
König: Sehr elegant formuliert.
Jarausch: ... zu formulieren, sodass es also dann auch in Amerika selber gleich eine Kritik gab, dass das eben sehr danach aussah, als ob da, ja gut, Beziehungen im Spiel waren und Wahlschulden ausgeglichen wurden, statt wirklich Wiederaufbauprogramme für Irak angefangen würden.
König: Wäre nicht Afghanistan ein geeigneteres Land gewesen nach dem Krieg, Oktober 2001 bis 2002 hinein, wo ja wirklich für den Moment es schien, als sei das Land jetzt erst mal „befriedet“?
Jarausch: Ja, doch, natürlich, nur es ist auf anderer Ebene auch wesentlicher schwieriger oder so was, weil Afghanistan viel zerstückelter ist und fast noch eine Stammeskultur hat, also als Einheit kaum wirklich existiert, während im Irak war schon eine Chance, denn der Irak war das erste von den Ländern, die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Ottomanischen Reich herausgeschnitten worden waren, was schon 1935, wenn ich mich richtig erinnere, unabhängig wurde. Ich denke, da gab es auch mehr Mittelklasse und modernisierte Leute oder so was. Es hätte schon besser funktionieren können.
König: In Westdeutschland nach dem Krieg wurde der Marshall-Plan wirklich zum auch sichtbaren Ausdruck des deutsch-amerikanischen Miteinanders. Sie haben andere Punkte genannt, die hinzukommen, also die Care-Pakete oder die Unterstützung ‚48 bei der Berliner Blockade. Ich bin aufgewachsen, überall sah man gebaut mit Mitteln aus dem Marshall-Plan, also für mich war das wirklich ... ich sehe das heute noch vor mir. Wie würden Sie diesen Stand der deutsch-amerikanischen Beziehung heute sehen? Gibt es eine Freundschaft zwischen diesen Ländern?
Jarausch: Es gibt beides, es gibt ein solides Fundament von zwischenmenschlichen Beziehungen. Viele Familien, die ich kenne, haben Mitglieder auf der einen oder anderen Seite des Atlantiks. Es gibt auch viele gemeinsame Interessen, Wirtschaftsverbindungen, militärische Interessen usw., aber es gibt auch einen deutschen Antiamerikanismus, und es gibt eine Art von kultureller Entfremdung auch auf der amerikanischen Seite.
Bei den gemeinsamen Grundwerten, der Menschenrechte, der Demokratie, auch eines freien marktwirtschaftlichen Systems, ist die Interpretation doch ganz anders, denn in den Vereinigen Staaten glaubt man an die Todesstrafe, hat man ein anderes Verhältnis zu Schusswaffen, ist der Begriff des Krieges ganz anders konnotiert, spielt die Religion im täglichen Leben eine viel stärkere Rolle und gibt es auch sehr viel Misstrauen gegenüber wirklich multilateralen internationalen Organisationen. Und dann habe ich noch den Sozialstaat vergessen, ich meine, der natürlich auch eine ganz andere Rolle in Europa spielt. Also bei all diesen Dingen oder so was sehe ich kulturelle Differenzen und halte deswegen eine ...
König: Die aber auch fruchtbar sein können, wenn man sie offen miteinander diskutiert.
Jarausch: Ja, natürlich, natürlich. Nur ich meine, das, was früher gegeben war, solange also noch hunderttausende amerikanische Soldaten in den Vereinigten Staaten waren ...
König: In Deutschland meinen Sie.
Jarausch: ... in Deutschland, hier stationiert waren, ist eine Art von menschlicher Beziehung oder so was. Das ist dabei zu erodieren, weil sich auch die Bevölkerung der Vereinigten Staaten verändert, also viel mehr Einwanderer aus Lateinamerika und aus Asien kommen, der schwarze Anteil wächst auch noch mehr, sodass also man das nicht mehr für selbstverständlich halten kann, diese deutsch-amerikanische Beziehung. Sie bedarf der intensiven Pflege.
König: 60 Jahre Marshall-Plan – ein Gespräch mit dem deutsch-amerikanischen Historiker Professor Konrad Jarausch. Vielen Dank.